Wie hoch ist die „Schöpfungshöhe” sonder­pädagogischer Förderung?

von Alexander Lang

Diese Frage ist gar nicht so eindeutig zu beantworten. Hierzu möchte ich ein wenig ausholen:

Begründet die Diagnose einer psychischen Störung sonder­pädagogischen Förderbedarf?

Weder verhält es sich so, dass Schüler*innen mit einer Diagnose psychischer Störungen automatisch sonder­pädagogischen Förderbedarf erhalten. Laut KIGGS vom Robert-Koch-Institut kann eine Prävalenzrate im Kindes- und Jugendalter von 16,9% angenommen werden. Für Mädchen (14,5%) geringer als für Jungen (19,1%).

Dieser Pool an Personen wäre ungleich größer als die sog. bisherige Förderquote (=Schüler*innen mit festgestelltem sonder­pädagogischen Förderbedarf) ist. Diese liegt für Deutschland bei ca. 7% aller Schüler*innen. Und dieser Wert wächst seit ca. einem Jahrzehnt an. Diese ca. 7% sind allerdings die Gesamtheit aller Förderschwerpunkte (lt. Deutsches Schulportal).

Setzte man als Äquivalent zu Schüler*innen mit diagnostizierten psychischen Störungen nur die Schüler*innenschaft mit Förderbedarf im Bereich Emotionale und soziale Entwicklung, käme man auf ca. 1,2%, stellt Hillenbrand in der Broschüre MesK fest (S. 6ff).

Es kann sicherlich festgehalten werden, dass vermutlich ein großer Anteil der Schüler*innen mit sonder­pädagogischen Förderbedarf in ES bei Vorstellung bei entsprechenden Fachleuten der Kinder- und Jugendpsychologie oder Kinder- und Jugendpsychiatrie eine psychische Störung aufweist.

Umgekehrt bedeutet das Vorliegen einer solchen Diagnose nicht, dass sonder­pädagogischer Förderbedarf in ES vorliegt. Hillenbrand weist in seinen o. g. Ausführungen auf diesen sog. service gap hin und meint damit die Diskrepanz zwischen psychischer Risikolage von Kindern und Jugendlichen im Schulsystem und einem angemessenen professionellen Angebot für ebendiese Schüler*innen durch medizinische, psychologische oder soziale Dienste.

Was begründet denn dann sonder­pädagogischen Förderbedarf in ES?

In NRW regelt dies die Verordnung über die sonder­pädagogische Förderung, den Hausunterricht und die Schule für Kranke (Ausbildungsordnung sonder­pädagogische Förderung AO-SF). Für den sonder­pädagogischen Förderschwerpunkt heißt es min §4, Abs. 4, dass ein "Bedarf an sonder­pädagogischer Unterstützung im Förderschwerpunkt Emotionale und soziale Entwicklung (Erziehungsschwierigkeit) vorliegt, wenn sich eine Schülerin oder ein Schüler der Erziehung so nachhaltig verschließt oder widersetzt, dass sie oder er im Unterricht nicht oder nicht hinreichend gefördert werden kann und die eigene Entwicklung oder die der Mitschülerinnen und Mitschüler erheblich gestört oder gefährdet ist".

In der AO-SF ist ebenfalls das Verfahren geregelt, welches das Vorliegen feststellt. In Vor-Salamanca-Prozess-Zeiten-Verfahren wurden diese Verfahren Sonderschul­aufnahmeverfahren genannt. Verkürzt zusammengefasst lag dem vormaligen Verständnis von Behinderung ein medizinisches, defektologisches Verständnis zugrunde, während nach der Salamanca Erklärung sich ein sozialer Behinderungs­begriff etablierte. Dies setzte sich zunächst innerhalb der Fachwelt durch, während sich heute durch die Allgegenwärtigkeit des Begriffs Inklusion eine stetig weitere Verbreitung feststellen lässt.

Was soll der Begriff „Schöpfungshöhe” in diesem Kontext bedeuten?

Mir fiel kein treffenderer Begriff ein, der eine Beliebigkeit von sonder­pädagogischer Förderung vorbeugt. Ich verweise den Lehrkräftenachwuchs an dieser Stelle immer wieder auf die ICF der WHO, die einen Mittelweg zwischen medizinischem und sozialen Behinderungsbegriff einschlägt und ein umfassenderes Verständnis von be-hindert werden, Schwierigkeiten an Partizipation und Bildung ermöglicht (S. 17ff), wenn ich den Eindruck habe, dass triviale Dinge unter dem Etikett sonder­pädagogischer Förderung Ziel ebendieser werden sollen.

Zum Beispiel begegnete mir vor langer Zeit einmal das Unterrichtsziel einer sonder­pädagogischen Unterrichtsstunde "Die Schülerinnen und Schüler sollen flüstern lernen", und ich denke, dass hier deutlich wird, was meine Intention ist. Flüstern zu erlernen kann kein Ziel sonder­pädagogischer Förderung sein, da es zu trivial ist. Es lässt jungen Menschen weder mehr am gesellschaftlichen Leben partizipieren oder sie sozial kompetenter handeln, sie erwerben durch "flüstern" kein Mehr an Bildung, Bildungschancen oder könnten noch nicht ausgeprägte Kompetenzen oder Fähigkeiten durch flüstern können erweitern. Eine Didaktisierung dieser Trivialität, eine theoriegeleitete Durchdringung, um sie zum Unterrichts­gegenstand oder Ziel von Förderung zu machen, ist schlicht nicht möglich.

Was ist das Ziel sonder­pädagogischer Förderung?

Die AO-SF formuliert sinngemäß (s.o.), dass Schülerinnen und Schüler erfolgreich an Unterricht und Erziehung partizipieren können und sich entwickeln können sollen. Und sollen sie auch andere dabei nicht abhalten/gefährden. §28 der AO-SF formuliert zudem eine baldige Rückkehr an die bisher besuchte Schule als Ziel: Aus Zeiten stammend, als noch nicht annährend die Hälfte aller Schüler*innen mit sonder­pädagogischen Unterstützungsbedarf in ES an der "bisher besuchten" Schule verblieben würde ich diese Aussage so interpretieren, dass das subsidiäre Gut sonderpädagogische Förderung Schülerinnen und Schülern ermöglichen soll, am Angebot der Allgemeinen Schulen (Unterricht, Erziehung, Entwicklung) wieder/zukünftig ohne ein "Mehr" an sonder­pädagogischer Unterstützung erfolgreich partizipieren zu können - dies möglicherweise trotz weiteren Lebens in einem belastbaren Lebensumfeld und unter der Bedingung von psychischen Störungen (s.o.).

Die KMK Empfehlungen zum Förderschwerpunkt Emotionale und soziale Entwicklung aus dem Jahr 2000 formulieren wie folgt: "Sonder­pädagogische Förderung soll das Recht der Kinder und Jugendlichen mit Förderbedarf im Bereich der emotionalen und sozialen Entwicklung auf eine ihren individuellen Möglichkeiten entsprechende schulische Bildung verwirklichen helfen. (…) Die sonder­pädagogische Förderung ist in erster Linie auf die Weiterentwicklung der Fähigkeiten zu emotionalem Erleben und sozialem Handeln gerichtet. (…)  Ziel ist die bestmögliche schulische, berufliche und soziale Eingliederung. "(KMK, S. 3).

Mir fällt gerade auf, dass dieser kurze Abriss sehr viele weitere sonder­pädagogische Verortungen notwendig macht, die ich hier in dieser Form gar nicht zu leisten vermag, z. B. die meiner Meinung nach grundlegende Bedeutung von Erziehung als Haupt­augenmerk sonder­pädagogischen Wirkens im ES-Bereich, das Spannungsfeld zwischen personenorientiertem Denken und systemischen Denken hinsichtlich des Verständnis von Störung und schließlich auch eine kritische Diskussion über die Möglichkeiten kompetenz­aufbauender sonder­pädagogischer Förderung in den sonder­pädagogischen Entwicklungs­bereichen.

 

Nachweise zu allen Zahlen / Literaturangaben:

https://deutsches-schulportal.de/schulkultur/laendervergleich-inklusionsquote-an-schulen-waechst-weiter/

https://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Gesundheitsberichterstattung/GBEDownloadsJ/FactSheets/JoHM_03_2018_Psychische_Auffaelligkeiten_KiGGS-Welle2.pdf?__blob=publicationFile

https://www.schulentwicklung.nrw.de/q/upload/Inklusion/mesk/broschuere_mesk.pdf

https://www.schulministerium.nrw.de/docs/Recht/Schulrecht/APOen/SF/AO_SF.pdf

https://www.unesco.de/sites/default/files/2018-03/1994_salamanca-erklaerung.pdf

https://www.dimdi.de/dynamic/de/klassifikationen/downloads/?dir=icf

https://www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/2000/2000_03_10-FS-Emotionale-soziale-Entw.pdf

 

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