Wie finden und ergeben sich sonder­pädagogische Förderziele für den Prozess der sonderpädagogischen Förderung in ES?

von Alexander Lang

Alleine die Eingangsfrage klingt merkwürdig provokativ: Wie lassen sich Förderziele finden?

Die Zeiten des Vorparadigmenwechsels in der Sonderpädagogik sind doch bereits lange Zeit vorbei (vormalige Sichtweise von Behinderung als prägendes Merkmal des „Behinderten“) und der „sonderpädagogische Blick” ist mehr denn je auf Ressourcen, Kenntnisse, Fähigkeiten, Können, Kompetenzen, Motivation und nicht mehr auf die Auffälligkeit, Andersartigkeit oder Be-hinderung eines Menschen gerichtet (Soziales Modell von Be-hinderung: eine Be-hinderung als eines unter vielen Merkmalen von Menschen mit Be-hinderungen).

In meiner Referendariatszeit in Hamburg wurde z. B. noch unreflektiert von Verhaltensgestörtenpädagogik gesprochen und ich habe rückblickend das Gefühl, dass damals auch innerhalb der Sonderpädagogik noch nicht ein soziales Verständnis von Be-hinderung vollkommen vorherrschte, sondern der Fokus noch im medizinischen Modell stecken blieb (wird hier gestreift). Ein anderes Thema ist, dass auch heute noch in weiten Teilen der Gesellschaft weiterhin ein medizinisch dominiertes Verständnis von Behinderung vorherrscht, mit allen negativen Folgen für Menschen mit Be-hinderungen (Stichworte Marginalisierung, Ableismus, Diskriminierung und Segregation - eine spannende Reflexion samt Perspektivwechsel bietet z. B. der Behindertenrecht-Aktivist Raul Krauthausen) oder auf ES bezogen eben als auffällig/ abweichend erachtetes Verhalten.

Was soll sonderpädagogischer Unterricht denn leisten?

Sonderpädagogischer Unterricht ist in der theoretischen Planung schnell sehr komplex: Neben rein akademischen Inhalten intendiert sonderpädagogische Förderung ein Mehr neben den klassischen Bildungsinhalten. Akademisches Lernen der Allgemeinen Pädagogik hat aus sonderpädagogischer Perspektive den schönen Vorteil, dass es innerhalb der jeweiligen Fächer taxiert werden kann. Beispielsweise kann fachliches Wissen (vertreten im System Schule durch die Fächer im Sek I und II-Bereich und die Lernbereiche im Primarbereich), bzw. können fachliche Kompetenzen in der Regel anhand der inhaltlichen Komplexität didaktisch aufbereitet werden. Der Bloomschen Taxonomie folgend zum Beispiel von konkret reinen Wissensleistungen in Form einer Reproduktion bis hin zu Syntheseleistung und Reflexion. Oder von weniger komplex bis hochkomplex, von Basiskompetenzen zu hochspeziellen Kompetenzen, von konkret handelnd zu mental-abstrakten Prozessen. Es lassen sich so leicht hilfreiche Operatoren formulieren und Lernzuwachs kann somit häufig sogar anhand von Indikatoren sichtbar werden.

Akademisches Lernen kann (im System Schule) gelingende oder nicht gelingende Lernzuwächse in Notenform beschreiben, der Weg vom Noviz*innentum zu Expertise in einem Fach kann inhaltlich meist sehr klar definiert werden. Ziele müssen nicht vom Individuum her gedacht werden, sondern ergeben sich aus der Fachlogik heraus, da es sich sehr gut definieren lässt, wie exzellente oder eben nicht ausreichende Kompetenzen z. B. im Schriftspracherwerb im Sprachunterricht oder mathematische Kompetenzen ausgeprägt sein müssen. Erfreulicherweise verändert sich diese rein normative Orientierung durch die Inklusionsbestrebungen der letzten Jahre, wie hier in einer Stellungnahme der Gesellschaft der Fachdidaktiken nachlesbar ist. Diese Entwicklungen werden für inklusive Lernwelten noch sehr spannend und bereichernd werden, hoffe ich. In ES gestaltet sich eine normative Beschreibung von Zielen oder erwünschten Kompetenzniveaus ungleich schwieriger, zugleich gibt es kaum Linearität: Welche Kompetenzschritte bauen aufeinander auf, um z. B. ein positives Selbstkonzept in Bezug auf den Schriftspracherwerb oder im sportlichen Bereich zu entwickeln und positive Selbstwirksamkeitserwartungen in diesen Bereichen aufzubauen? Wie emphatisch müssen SuS sein, um nicht mehr als auffällig zu gelten und welche Einzelkompetenzen benötigt dieser Schritt dann? Ist es besser, die Vermeidungsstrategie „weglaufen“ einzusetzen, als verbal aggressiv zu reagieren, wenn SuS situativ überfordert sind?

Komplexität sonderpädagogischer Diagnostik: Individuenzentrierung oder systemisches Denken?

Doch sobald man den Horizont der o. g. klassischen akademischen Lernbereiche überschreitet, wird es wahnsinnig komplex, individuell und insbesondere im Bereich ES, der emotionalen und sozialen Entwicklung, vormalig Schule für Erziehungshilfe, stark sonderpädagogisch und zusätzlich psychologisch, vor allem entwicklungspsychologisch, häufig auch entwicklungspsychopathologisch.

Denn neben der Schwierigkeit des Herausfindens, warum Schüler*innen mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf in ES sehr häufig auch Probleme im akademischen Lernbereich haben tut sich eine ganze sonderpädagogische Welt auf; zu erfassen, warum junge Menschen sich der „Erziehung” im System Schule teilweise maximal verschließen, dass eben dieser ES Unterstützungsbedarf festgestellt wird. Ab diesem Punkt nimmt die theoretische Komplexität nochmals zu, denn neben einer rein personenzentrierten Sichtweise, die das System Schule zwangsläufig mit sich bringt (häufig psychologische Fokussierung in Form von Orientierung an Störungsbildern der Medizin oder Symptomen von beschriebenen Störungen.) Marc Willmann (2012) stellt kritisch fest, dass es nach einer bereits überwundenen Psychologisierung der Disziplin ES wieder deutliche Tendenzen in diese Richtung gebe und widmet dieser Feststellung ein ganzes, sehr lesenswertes, Buch.

Pragmatismus und Utilitarismus im Schulsystem und Gesellschaftssystem vorherrschend?

Aus ES-Perspektive jedoch lässt sich allerdings vor allem eine sonderpädagogisch-systemische Perspektive einnehmen: Nämlich, das (manches) gesellschaftlich pathologisiertes Verhalten in einer auf Hochleistung und Anpassung, nach Konformität ausgerichteten Gesellschaft mit zunehmend utilitaristischen und pragmatischen Tendenzen (frei nach Ahrbeck und Willmann 2010, S. 205ff) für den jungen Menschen durchaus sinnvoll ist (zumindest Sinn ergeben kann) und einer verstehbaren Logik folgt. Doch in einer auf Leistung fokussierten, kompetetiv ausgerichteten Lernumgebung im Wirtschafts-, Bildungs- und Gesellschaftssystem (Stichwörter Pragmatismus und Utilitarismus) scheint es derzeit im deutschen Bildungssystem nur wenige Personen zu geben, die eine erweiterte Vorstellung von Vielfalt als Ausdruck von Normalität haben und vertreten. Willmann (2012) spricht in diesem Zusammenhang von reflexiver Sonderpädagogik, Palmowski (vgl. 2007, S. 132ff) möchte vor allen einen gestörten Erziehungsprozess entstören, nicht Schüler*innen und weist auf die besondere Bedeutung des Kontextes für das Auftreten von „Verhaltensstörungen” hin. Hier wird einem als ES-Lehrkraft deutlich die eigene Minoritätenperspektive auf die große Mehrheit und Gesamtheit der Allgemeinen Pädagogik mitsamt ihrer Diskurskraft sehr bewusst:

Es ist also eindeutig ein „Mehr” an Erziehung (Erziehungsverhalten und -wissen der Erziehenden ES-Lehrkräfte) gefordert, um dann (wieder?) akademische Inhalte vermitteln zu können. Der sonderpädagogische Unterricht wird also so adaptiert, dass Schüler*innen (wieder?) individuelle Lernzuwächse und positive Entwicklungen erfahren können. Diese Adaptation kann sogar als sonderpädagogische Grundprämisse von Unterrichtsplanung gesehen werden: Nicht normative (curriculare) Vorgaben entscheiden die didaktische (inhaltliche) Gestaltung des Unterrichts, sondern die exakte Kenntnis (sonderpädagogische "Diagnostik") der individuellen Lernvoraussetzungen bestimmen maßgeblich Inhalte, Ziele, Medien und Methoden von Unterricht.

Was ist das Ziel sonderpädagogischer Förderung in ES?

Hier schrieb ich ausführlicher über formale Ziele sonderpädagogischer Förderung in ES (einmal laut AO-SF in NRW und einmal durch die KMK ausgedrückt): Es geht um an "Unterricht und Erziehung partizipieren können und sich entwickeln können" (AO-SF NRW) und "Weiterentwicklung der Fähigkeiten zu emotionalem Erleben und sozialem Handeln gerichtet. (…)  Ziel ist die bestmögliche schulische, berufliche und soziale Eingliederung" (KMK, S. 3.).

Woraus ergibt sich denn nun konkret der Weg zu sonderpädagogischen Förderzielen, damit Schüler*innen die oben genannten formalen Ziele im Optimalfall erreichen können?

Innerhalb des Prozesses sonderpädagogischer ES-Förderung können folgende Faktoren hilfreich sein, die o. g. Ziele zu erreichen oder zumindest an positiven Veränderungen des - meist inakzeptablen und von persönlichem Leiderleben geprägten - Ist-Zustandes zu arbeiten (siehe auch hier: Bereit für Veränderung?).

Es geht im Prozess sonderpädagogischer Förderung also im weitesten Sinne um das diagnostische Erkennen von individuellen Lern- und Entwicklungshemmnissen und Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten, die Dokumentation dieses Prozesses, der Erkennen von (systemischen) Ressourcen (innerhalb und außerhalb von Schule), der Kenntnis und Analyse von Resilienz- und Risikofaktoren, dem Aufbau von tragfähiger Beziehung und Bereitschaft für Veränderung, Bildung des jungen Menschens im Rahmen seiner individuellen, aktuellen Fähigkeiten und neben schulischen und persönlichen positiven Entwicklungen (bzw. auch dem respektvollen Begleiten von negativen Entwicklungen) vor allem um anschlussfähige Bildungsprozesse und der Ermöglichung von einem Leben im Kontext (Partizipation) unserer Gesellschaft ohne Schädigung derselben oder Schädigung der eigenen Person und des Umfeldes.

Für das Finden von Bereichen für Förderung oder Förderzielen haben sich meiner Einschätzung nach folgende Instrumente, Methoden und Aktivitäten bewährt (bzw. sind teilweise durch z. B. Verordnungen vorgeschrieben):

  • Das Anfertigen und regelmäßige Aktualisieren und Prüfen auf Entwicklungs- und Lernerfolgen von individualisierten Förderplänen, in denen neben sonderpädagogischen überfachlichen Entwicklungen auch detailliert die akademischen Lernmöglichkeiten im Sinne eine CBM (Curriculum-based measurement) niedergelegt werden. Die AO-SF §21,7 schreibt vor, dass sowohl für Schüler*innen mit formal festgestelltem sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf als auch für solche ohne formal festgestelltem Unterstützungsbedarf Förderpläne vorliegen müssen
  • Hinweise aus diagnostischen Testergebnissen und Screenings
  • Eigene systematische oder unsystematische Beobachtungen aus unter­schiedlichsten Kontexten im Schulalltag
  • Ergebnisse aus Team­besprechungen
  • Hinweise aus persönlichen Gesprächen mit Schülerinnen und Schülern/ mit Eltern/ Erziehungsberechtigten/ externen Kooperations­partner*innen
  • Wissen über die mögliche Notwendigkeit und Durchführung von psycho­edukativen Angeboten für Eltern/ Erziehungs­berechtigte
  • das Aneignen von fachlichem Hintergrund­wissen zu dem „Zielgegenstand“ (theoretisch fundiertes Wissen über... z. B. ADHS, Störungen des Leselern­prozesses oder die Graphem-Phonem-Korrespondenz, Empathie, Prosoziales Verhalten, Traumata und Re-Traumatisierung, Aggressionen, Depression bei KuJ, etc.) aber neben dem Fachwissen über ... sollten aus sonder­pädagogischer Sicht auch folgende Bereiche bedacht werden:

    a) Wie läuft die altersgerechte Normal­entwicklung ab (entwicklungs­psychologische, bzw. medizinische Kenntnisse über z. B. Hinreifungs­prozesse, Bedeutung der frühen Kindheit, Theory of mind, Sprach­entwicklung, naive natur­wissenschaftliche Vorstellungen, etc.)

    b) Was ergeben Erkenntnisse der Entwicklungs­psychopathologie über abweichende Entwicklungs­verläufe, Risiko­faktoren und protektiven Faktoren? Welche Pfade existieren, welche Fenster für Entwicklungen sind noch geöffnet?
  • Insbesondere im ES-Bereich sind folgende Fragen zu beantworten: Wie entwickeln sich emotionale und soziale Kompetenzen? Welche Modelle kenne ich, an denen ich mich und meine Unterrichtslernwelten orientieren und ausrichten kann?
  • Klarheit darüber, ob ein direkter Kompetenz­aufbau aufgrund der oben gesammelten Erkenntnisse möglich ist (z. B. Aufbau kooperativer Kompetenzen, Aufbau von Regelverhalten, Einsatz kontext-angemessener Sprache, exekutive Funktionen ausbauen, Einsatz von Strategien, um... usw.) oder ob es theoretisch schwierig fundierbar erscheint, einen systematischen Kompetenz­aufbau zu intendieren, sondern vielmehr ein Milieu zu schaffen ist, welches das erwünschte Ziel zu erreichen ermöglicht/ vereinfacht (z. B. Empathie­fähigkeit erweitern, positive Selbstwirksamkeits­erwartungen, positives Selbstkonzept etc.)
  • im Zuge eines dialogischen Förderprozesses immer wieder im Gespräch mit Schüler*innen und Schülern bleiben und explorieren, was auf Seiten der Schüler*innen passiert (informelle und formale Gespräche mit Schüler*innen im Sinne von Feedbacks zum Abgleich von Selbst- und Fremd­einschätzungen)
  • Realistisch denken und Ziele verfolgen, die im Kontext Unterricht und in Gruppen umsetzbar erscheinen und wenn nötig, externe Fachkräfte einbeziehen
  • Verdeutlichung von positiven Entwicklungen (verbal & visuell unterstützt) und Bewusst­machung von Stärken und Ressourcen und Resilienzen
  • Wurden Ziele erreicht? Wurde neues Verhalten etabliert? Zeigen sich erkennbare Lern­zuwächse? Dann bitte unbedingt Aufmerksamkeit/ Achtsamkeit/ Attribuierung auf eigenes Tun, den eigenen Anteil der Schüler*in lenken.

Theoretische Hintergründe sonderpädagogischer Förderung

Innerhalb der Sonderpädagogik wird dieser komplexe Handlungsprozess häufig mit dem Begriff "Förderdiagnostik" beschrieben. Hier möchte ich oben getätigte Aussagen zum Ablauf des sonderpädagogisch-förderdiagnostischen Arbeitsprozesses kurz konkretisieren:

Insbesondere Schlee (z. B. 2007) verweist seit vielen Jahren bereits auf die Schwierigkeit des sogenannten naturalistischen Fehlschlusses im theoretischen Begründungskontext von sonderpädagogischer Förderung. Aus diagnostischen Handlungen, bzw. Einschätzungen können sich nicht legitime Soll-Zustände (in diesem Fall Ziele von Förderung) direkt ableiten lassen. Aus Ist-Werten lassen sich keine Soll-Werte ableiten. Diese Kritik auf wissenschaftstheoretischer Ebene wurde laut Breitenbach bis heute nicht entschärft (2014, S. 69).

Wie kann dann der sonderpädagogische Förderprozess trotzdem praktisch und theoriegeleitet ablaufen?

Hierzu ist es hilfreich, sein sonderpädagogisches Handeln auf Tiefenstrukturebene im Vorfeld zu durchdenken - verschiedene Modelle können herangezogen werden (z. B. das Ablaufmodell des förderdiagnostischen Prozesses von Strasser nach Breitenbach (2014, S. 70) oder das zyklische Modell der Diagnostik von Schuck (ebd., S. 71). Ich beziehe mich am liebsten auf das Modell von Breitenbach (ebd., S. 71ff), da ich hier die Kritik Schlees am besten aufgenommen und abgemildert sehe und die Prozesshaftigkeit sonderpädagogischer Förderung sehr gelungen dargestellt finde:

Sonderpädagogische Förderung wird so bei Breitenbach eben nicht zu einer komplexitätsreduzierenden Struktur nach dem Grundmuster "ich erfasse Ist-Werte" und "ich generiere darauf fußend Soll-Werte", vielmehr beschreibt Breitenbach ein doppeltes hypothesenbildendes und hypothesenprüfendes Vorgehen.

In folgendem zirkulären Geschehen (mit den stets gleichen Anfangs- bzw. Endpunkten des Lernziels/Lernangebotes und des adaptierten Lehrangebotes) vollzieht sich angelehnt an Breitenbach der Prozess der sonderpädagogischen Diagnostik und Förderung im Kontext Unterricht:

Förderprozess nach Breitenbach

 

1. Hypothesenbildung erfolgt über den möglichen Bedingungshintergrund <=> subjektive Hypothesen von Lehrkräften über die individuellen Lernvoraussetzungen der SuS (untermauert durch diagnostische Tests/ Methoden)

2. Hypothesenbildung erfolgt im weitesten Sinne durch Erhöhung der Adaptivität der Unterrichtsangebote in Bezug auf die individuelle Passung der individuellen Lernvoraussetzungen der SuS zum fachlichen und überfachlichen (bzw. prozessbezogenen) Inhalt im Sinne der Zone der proximalen Entwicklung nach Vygotski.

Im sonderpädagogischen Förderprozess geht es somit nicht um die Generierung von Soll-Zuständen aus diagnostizierten Ist-Zuständen, sondern vielmehr um eine stete theoriegeleitete Hypothesenbildung und Hypothesenprüfung, um Entwicklungs- und Lernhemmnisse von SuS im positiven Sinne beeinflussen zu wollen. Und je nach Falsifikation, Verifikation oder Erreichung von intendiertem Lernzuwachs, bzw. positiven Entwicklungen wird das Unterrichtsangebot adaptiert oder der Prozess beginnt wieder mit neuen Intentionen. Adaptiver sonderpädagogischer Unterricht intendiert überfachliche und fachliche Inhalte gleichermaßen:

Exakte Hypothesen über fachliche und überfachliche Ursachen von Lernhemmnissen und Expertise im Unterrichtsfach bilden gemeinsam die Grundlage sonderpädagogischer Förderung

Beispielsweise können sowohl fachliche als auch überfachliche Lernhemmnisse Lernprozesse verlangsamen oder unmöglich machen; so kann eine große Fehleranzahl in der Diktat-Rechtschreibleistung einer Grundschülerin mit noch nicht ausreichend genutzten orthografischen Strategien, mit gering entwickelter auditiver Gliederungsfähigkeit, einer zu geringen Merkfähigkeit für sprachliches Material oder einem negativen Selbstkonzept im schriftsprachlichen Bereich assoziiert mit situativ heftigem Stresserleben in der Rechtschreib-Leistungssituation erklärt werden und je nach Hypothesenbildung würden unterschiedliche Lernangebote sonderpädagogischer Förderung entwickelt und gemacht werden (Lesetipp für Nicht-Deutschlehrkräfte: ab Seite 10 stellt der Leitfaden zur LRS-Förderung Berlin-Brandenburgs tief fundierte theoretische Erkenntnisse und auch mögliche Förderansätze, sprich zielführende Aufgabenangebote, dar) (vgl. Breitenbach 2014, S. 72).

Das Beispiel lässt deutlich werden, dass eine sonderpädagogische Deutsch-ES-Lehrkraft sowohl über Expertise in überfachlichen (Selbstkonzept etc.) als auch fachlichen (Orthografische Strategien), und prozessbezogenen Kompetenzen (auditive Gliederungsfähigkeit und Merkfähigkeit für sprachliches Material) verfügen muss, um dieser Schülerin ein zielführendes Angebot zur Verbesserung Ihrer Diktat-Rechtschreibleistung machen zu können.

Im sonderpädagogischen Förderprozess gilt es also, diese Expertise in allen immer wieder auftretenden Lernbarrieren-Situationen einsetzen zu können, denn es lassen sich insbesondere im ES-Bereich viele SuS identifizieren, die bei durchschnittlicher und guter Begabung durch überfachliche oder prozessbezogene Lernbarrieren selbst einfachsten Lernzuwachs nicht generieren können, da möglicherweise ihre bisherige Lernbiographie im auf Funktionieren und Leisten ausgelegten deutschen Schulsystem von Misserfolg, Beschämung, Erniedrigungs- und Wuterfahrungen geprägt war und sich bisher (noch) keine positiven Selbstwirksamkeitserwartungen, kein positives Selbstkonzept im Bereich schulischer Leistung erbringen/ abrufen und keine adaptiven Strategien zum Umgang mit negativen Erfahrungen und Gefühlen entwickeln konnten und statt dessen maladaptive Strategien zur Bewältigung eingesetzt werden, Schule (noch) nicht als Ort der Stärke und des Wohlgefühls attribuiert wird und sich eine Art Teufelskreis in der Interaktion mit Lehrkräften entwickelte.
Wie selbstverständlich ergeben sich im Fall dieser hypothetischen Annahmen keine rein fachlichen, sondern vielmehr überfachliche Angebote (z. B. im systematischen Anbietens eines therapeutischen Milieus, präventiven Settings und reflektierten professionalisierten Erziehungsverhaltens), mindestens aber fachlich prozessorientierte Angebote (im Sinne bereichsspezifischer Angebote).

Es gehören also zwingend notwendig sowohl fachliche als auch überfachliche-prozessbezogene Inhalte in eine fundierte sonderpädagogische Förderplanung, um SuS bestmöglichen Lernzuwachs in einem umfassenden, erweiterten Bildungsverständnis zu ermöglichen.

Aktueller Fachdiskurs über das Verständnis von sonderpädagogischer Förderung - spannende Zeiten für ES

Der Fokus sonderpädagogischen Tuns kann hierbei ganz unterschiedlich gesetzt werden, zeigt ein derzeit geführter Fachdiskurs im Bereich der zweiten Ausbildungsphase von Lehrkräften: Im Artikel "Primat der Fachlichkeit - Thesen und Argumente für ein neues Förderverständnis in der Sonderpädagogik" führen die Autor*innen Ilm, Schick und Rolf eine spannende neue Möglichkeit zur Findung und Formulierung von sonderpädagogischen Förderzielen aus, die ganz konkret auch meine Ausbildungsarbeit mitprägt. Als Reaktion auf die progressive erstgenannte Veröffentlichung kann der Artikel des Autor*innenteams um Dr. Thamm "Duale Planungskompetenz versus Primat der Fachlichkeit - Reduktion auf einen "fachlichen Unterstützungsbedarf" verstanden werden. Hier wird "klassisch sonderpädagogisch" argumentiert, denke ich und stelle aber auch fest, dass ich einen offenen Diskurs über das sonderpädagogische Förderverständnis sehr begrüße und mich auf die zukünftigen Entwicklungen freue. Ergänzung im Januar 2021: Ich selbst erweiterte zwischenzeitlich diesen Diskurs ebenfalls um einen eigenen Beitrag in der Zeitschrift für Heilpädagogik.

 

Literatur zum Weiterlesen

Ahrbeck, Bernd, Willmann, Marc: Pädagogik bei Verhaltensstörungen. Kohlhammer 2010

Berlin-Brandenburg, LISUM: Leitfaden LRS, 2010

Breitenbach, Erwin: Psychologie in der Heil- und Sonderpädagogik, Kohlhammer 2014

Palmowski, Windfried: Nichts ist ohne Kontext, Systemische Pädagogik bei "Verhaltensauffälligkeiten". 2007

Schlee, Jörg: „Förderdiagnostik ist ein verhängnisvoller Mythos“. Interview mit Jörg Schlee. In: Heilpädagogik online 02/2007, S. 59-66

 

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