Wie entfaltet sonderpädagogische Förderung in ES ihre Wirkung? Vier Dimensionen sonderpädagogischer Förderung in ES

von Alexander Lang

Was unterscheidet sonderpädagogischen Unterricht in ES denn von Unterricht in den allgemeinen Schulen?“ ist eine Frage, die mir in den letzten zwei Jahrzehnten häufig gestellt wurde und nach wie vor gestellt wird. Hinter dieser Frage steckt in der Regel ein Blick von außen, diese Frage wird mir also meistens von Lehrkräften oder sonstigen Gesprächspartner*innen gestellt, die nicht dem sonderpädagogischen ES-Lehramt angehören.

Die gleiche Frage wird mir aber auch innerhalb sonderpädagogischer Lehrämter gestellt, sie lautet dann eher „Was unterscheidet denn ES-Unterricht von dem anderer sonderpädagogischer Fachrichtungen?“, häufig mit einem „denn“ dahinter.

„Denn…“ die SuS mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf in ES lassen sich von denen der anderen sonderpädagogischen Förderschwerpunkte darin unterscheiden, dass sie i. d. R. keine Einschränkungen in den Funktionsfähigkeiten und -strukturen des Körpers im Sinne eines „Impairments“ („Schädigung“) aufweisen aber trotzdem im System Schule in ihrer Partizipation an Bildungsinhalten und Erziehungsprozessen be-hindert werden (vertiefend nachzulesen im ICF der WHO, welches einen Mittelweg zwischen einem rein medizinischen und dem sonderpädagogisch favorisierten, sozialen Behinderungsverständnis darstellt).

Was sind in ES überhaupt die Ziele sonderpädagogischer Förderung?

Hier habe ich mich mit dieser vermeintlich simplen Frage bereits ausführlich auseinandergesetzt. Ich finde es immer wieder sinnvoll, sich der Ziele sonderpädagogischer Förderung in ES zu vergewissern, um den eigenen Kompass immer wieder justieren zu können und sich nicht vom Kleinklein des Alltages zu sehr vom Weg abbringen zu lassen.
An dieser Stelle sie zusätzlich auf die kritische Beleuchtung der Ziele und Funktionen unseres deutschen Schulsystems von Jöran Muuß-Merholz verwiesen, um etwas über den Tellerrand meiner ES-Minoritätsperspektive hinaus zu gelangen.

Wie entfaltet sich denn die Wirkung sonderpädagogischer Förderung in ES?

Meine Überzeugung als ES-Seminarausbilder ist, dass sich Können nur auf der Grundlage von fundiertem Wissen zeigen kann. Ich muss also die Wirkfaktoren meines Könnens kennen, um sie systematisch und nachhaltig realisieren zu können. So kann aus dem Wissen schließlich Können in der Umsetzung des geplanten Unterrichts generiert werden, welches sich mit zunehmender Erfahrung zu professionsspezifischen Erfahrungswissen und -können entwickelt.

Meine Erfahrung und theoretischen Annahmen begründen mindestens diese vier thesenartig formulierten Dimensionen:

Abb. 1 Vier Dimensionen - Wie entfaltet sonderpädagogische Förderung in ES ihre Wirkung? Designidee inspiriert von @falkgolinsky

1. Erzieherische Dimension

Meine These ist also, dass ein nicht zu unterschätzender, womöglich insgesamt größerer Teil der Gesamtwirkung sonderpädagogischer Förderung in ES sich aus einem Schule-anders-Gestalten im Oppschen Sinne ergibt (vgl. Opp 2008, S. 74f).  Ausgehend von der These, dass in der Entstehung von Gefühls- und Verhaltensstörungen auch, bzw. vor allem  Entwertungserfahrungen, Abbruch von Gemeinschaft, Verlusterfahrungen und Wut auf Seiten von Schülerinnen und Schülern eine zentrale Rolle einnehmen, lässt sich folgende erzieherische Prämisse ableiten:

Vor schulischen Lernaufgaben müssen Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf im Bereich Emotionale und soziale Entwicklung grundlegende Erfahrungen des Geachtet- und Respektiertwerdens machen können: Sie brauchen also Gemeinschaften, in denen sie sich sicher, geschützt und eingebunden fühlen (vgl. ebd, S. 74ff.).

Welche konkreten erzieherischen Ideen dann handlungsleitend sein müssen, kann beispielhaft Prengels wertvollen Erkenntnissen aus dem Projektnetz INTAKT (Soziale Interaktionen in pädagogischen Arbeitsfeldern) entnommen werden: Es geht um eine professionelle Beziehungsgestaltung für eine Pädagogik der Vielfalt auf Beziehungsebene und darum, wie professionelle Erziehende Einzelne oder Gruppen ansprechen (vgl. Prengel 2019. S. 17ff). Vor allem ist es unabdingbar nötig, dass Agierende unserer Profession (mindestens wir ES-Lehrkräfte - eigentlich alle Lehrkräfte!) Grundsätze der Anerkennungsforschung verinnerlichen und um die existentiellen Bedürfnisse nach anerkennender Fürsorge insbesondere von o. g. Schülerschaft wissen (vgl. ebd., S. 47ff).

In INTAKT kommt Prengel zu der, aus der ES-Fachperspektive heraus, überaus besorgniserregenden Erkenntnis, dass im Kontext Schulunterricht insgesamt 22% leicht verletzende und sehr verletzende Interaktionssequenzen aus einem 15.000 Fallvignetten umfassenden Pool an standardisiert erfassten Interaktionen (= Kommunikationssituation zwischen Lehrkräfte und SuS) zu beobachten waren. Umso wichtiger erscheint es, dass das dieses ES-sonderpädagogische professionsspezifische Wissen unserer Fachrichtung absolut gegenteilige pädagogische Interaktionsszenarien bewirkt (vgl. ebd., S. 105) und dieses Wissen auch in die Allgemeine Pädagogik hineingetragen werden muss (vgl. Lang und Walbert 2021, S. 25f).

Dieser beschriebene sonderpädagogische ES-Wirkeffekt in einer erzieherischen Dimension würde durch ein Primat der Erziehung umsetzbar und erklärbar: ein bewusst herzustellendes therapeutisches Milieu als Grundlage sonderpädagogischen Unterrichtens im unterrichtlichen Kontext (vgl. Stein & Stein 2014, S. 274). Es finden sich nicht ohne Grund in förderschwerpunktspezifischer Literatur mehrere Anklänge von z. B. sonderpädagogischer Beratung als „Zone zwischen Unterricht und Therapie“ (Willmann 2008, S. 60) oder die Begrifflichkeit eines „therapeutischen Milieus“ (Stein & Stein 2014, S. 88), welches bereits seit der Nachkriegszeit durch Bettelheim als die Schaffung einer besonderen Lernatmosphäre beschrieben wird. SuS soll ein intensives und unterstützendes Gefühl des Angenommenseins und Wohlfühlens im schulischen Kontext ermöglicht werden. Gemeint ist auch eine bewusste Schonraum-Orientierung, die auch ein vorübergehendes Aussteigen aus schulischen Drucksituationen bedeuten kann (vgl. ebd., S. 87ff.).
Außerhalb des Kontextes Unterricht erweitert sich die Perspektive um die Kontexte Familie, helfende Netzwerke der Kinder- und Jugendhilfe, einem präventiven Schulklima (vgl. Hennemann et al. 2015, vgl. S. 72ff.) als solchem und sonderpädagogischer Beratung auf verschiedenen Ebenen (vgl. Willmann 2008, S. 60ff. und S. 144ff. und im Bereich der Inklusion als Konsultationskonstrukt S. 209ff.).

Reflexive Sonderpädagogik entstört Erziehungsprozesse - nicht SuS. Ein systemisches Verständnis von Störung kann diesen Prozess erleichtern

Ein professionalisiertes Erziehungsverhalten in der Wirkdimension Erziehung muss unbedingt den bestehenden utilitaristischen und pragmatischen Tendenzen des Schulsystems in Deutschland (aber auch darüber hinaus in der OECD) entgegenwirken. Diese Tendenzen sorgen insbesondere für die SuS mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf in ES für eine wieder deutlich wahrnehmbare Medizinalisierung und Psychologisierung der Fachdisziplin mit klaren Tendenzen der (Wieder-) Übernahme von defizitorientierten und personenorientierten Sichtweisen auf Andersartigkeit statt den Blick auf Normalität in Vielfalt zu richten (vgl. Ahrbeck, Willmann 2012, S. 205ff und vgl. Willmann 2012, S. 152f).

Zudem wird in der Alltags-Arbeitspraxis im Kontext (ES-Förderung) Schule allzu leicht vergessen, dass neben den gängigen interventionistischen und somit schülerbezogenen Maßnahmen, die sonderpädagogischen Angebote, Diagnosen und Hilfsmaßnahmen sich hier eher auf eine „Heilung“, „Entstörung“ oder „Reparatur“ des Kindes richten („Interventionspädagogik“). Ich plädiere im Sinne dieser Wirkdemension sonderpädagogischer Förderung in ES vor allem dafür, dass eine reflexive Sonderpädagogik im Erziehungsprozess vorherrschen sollte:

Diese reflexive Sonderpädagogik stellt die Entstörung des Erziehungsprozesses in den Vordergrund (vgl. Willmann 2012, S. 152ff) - wir Lehrkräfte verändern in diesem Sinne insbesondere unsere Angebote, Re-aktionen und den Kontext - und nicht die Schülerinnen und Schüler!

Eine systemisch-konstruktivistische Grundhaltung ergänzt diese professionalisierte Erziehungshaltung im ES-Bereich

Ein systemisches Verständnis des „Störungsbegriffs“ kann diesen bewussten professionellen erzieherischen Prozess wunderbar ergänzen. Meinem pädagogischen Verständnis und dem daraus folgenden (sonder-) pädagogischen Handeln liegt folgender systemische Ansatz zugrunde: (Auszug aus Lang und Walbert 2021, S. 26/27) „Jedes Individuum ist in Systeme und Subsysteme, in Makro und Mikrosysteme eingebettet, die auf es einwirken und auf die es wiederum wirkt (Myschker & Stein, 2014, S. 337)“. Palmowski verdeutlicht, dass „jedes Mitglied eines Systems in unmittelbaren Kontakt zu anderen Menschen seines Systems steht oder zumindest stehen könnte“ (2007, S. 67). Für uns als sonderpädagogische Lehrkräfte des Förderschwerpunkts Emotionale und soziale Entwicklung ist das systemische Denken deshalb so handlungsleitend, weil der Handlungsspielraum des Einzelnen größer ist: „Hier ist er sowohl der Reagierende (er orientiert sich an den aktuell gültigen Spielregeln), als auch der Agierende (die Spielregeln selbst können jederzeit explizit oder implizit Thema werden und unterliegen der Veränderung durch die Akteure). Insofern ist diese Sichtweise optimistischer in Bezug auf die Handlungs- und Veränderungspotentiale der Mitglieder eines sozialen Systems“ (Palmowski, 2007, S. 67). Dies ist unserer Meinung nach gerade in der Arbeit mit doch häufig stark verunsicherten Schülerinnen und Schülern mit Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung Emotionale und soziale Entwicklung von enormer Wichtigkeit: Diese Sichtweise betrachtet alle Beteiligten – also auch und aus unserer Sicht gerade besonders auch „ge- und verstörte“ Schülerinnen und Schüler – als potentiell aktiv Handelnde, also auch potentiell Verändernde und billigt ihnen somit auch immer das Potential zu positiven Entwicklungen und Veränderungen zu. „Die systemische Sichtweise geht davon aus, dass das Verhalten einzelner Menschen im Wesentlichen erklärt werden kann durch den jeweiligen Kontext, in welchem sie sich gerade aufhalten, bzw. durch die jeweiligen (implizierten) Spielregeln, die das Verhalten der Einzelnen steuern“ (Palmowski, 2007, S. 68). Ein Teil dieses Kontexts stellt auch die Schule mit ihren (Re-)Agierenden dar, denen die Aufgabe zukommt, mit den betreffenden Schülerinnen und Schülern (möglichst) gemeinsam Potentiale zu erkennen und Möglichkeiten der Entwicklung zu benennen sowie Umsetzungen zu beraten, zu begleiten und zu unterstützen. „Es geht um die Stärkung der Potentiale der Lernenden, nicht um die Durchsetzung von Vorgaben. Die Ressourcen der Lernenden, Suchenden und Sich-Entwickelnden sind dafür die eigentlichen Bezugspunkte für das pädagogische Handeln“ (Arnold & Arnold-Haecky, 2009, S.15). Lehrkräfte unseres Förderschwerpunkts verändern also ihre unterrichtlichen Angebote, ihre (Re-)Aktionen und den Kontext, um Schülerinnen und Schülern individuelle Lernzuwächse zu ermöglichen. Sonderpädagogischer Unterricht muss viel mehr den individuellen Lern- und Leistungsvoraussetzungen und den individuellen momentanen Möglichkeiten der jeweiligen Schülerin bzw. des jeweiligen Schülers Rechnung tragen und dementsprechend adaptiert werden. Ein solcher Unterricht konzentriert sich nicht ausschließlich auf die beteiligten Personen, sondern nimmt auch die Beziehungsmuster zwischen diesen in den Blick (vgl. Palmowski, 2007, S. 70).

2. Dimension der Haltung und Begegnung in persönlicher Beziehung

      (...werden SuS aufgeschlossen für Bildung/ Lernen/ Entwicklungen/ Veränderungen?)

Im Artikel „Variable sonderpädagogische Unterrichtsplanung“ formulierten Georg Walbert und ich (2021, S. 25) wie folgt: „Es ist von großer Bedeutung für uns, darauf zu verweisen, dass Opp der Förderschule Emotionale und soziale Entwicklung als Teil der schulischen Selektionspraxis bestimmte Merkmale pädagogischer Professionalität ins Buch schreibt, die eine Basis zur Legitimation Ihrer Existenz innerhalb dieser Selektionspraxis bilden (vgl. 2008, S. 73ff.). Er resümiert wie folgt: „dass sie eine andere Schule ist, dass sie sich in ihren professionellen Kompetenzen, ihren alltäglichen Routinen, ihrer pädagogischen Reflexion und in ihren pädagogischen Alternativen und Ressourcen in vielfältiger Weise von der Allgemeinen Schule unterscheidet“ (ebd., S.74). Opp postuliert sogar ein Primat der Erziehung (ebd., S. 83).

Wie könnte diese zu entwickelnde Haltung aus ES-Sicht ausgestaltet werden, die es SuS ermöglicht, sich auf die Bildungs-, Lern- und Entwicklungsangebote im Kontext sonderpädagogischer Förderung einzulassen, hierfür regelrecht aufgeschlossen zu werden?

Aus meiner Sicht eignet sich das flexibel handhabbare pädagogisch-therapeutische Fünf-Phasen-Modell von Myschker und Stein hierzu hervorragend (Lang und Walbert 2021, S. 25): „Dabei möchten wir besonders die erste Phase hervorheben: „Die Phase der Leistungsentlastung“. Hier geht es um „Bedingungsloses Akzeptieren des Kindes/Jugendlichen, nicht der Verhaltensstörungen, liebevolle Zuwendung: Aufbau eines pädagogischen Bezugs“ (Myschker & Stein, 2014, S. 247). Ein „begrenztes Angebot nach dem schulischen Fächerkanon“ (ebd., S. 247) kann hier angezeigt sein, im Vordergrund steht die „Einführung pädagogisch-therapeutischer Verfahren nach individuellen und gruppenbezogenen Bedürfnissen und Möglichkeiten“, welche im individuellen Förderplan niedergelegt werden (ebd., S. 247).

Hennemann et al. geben in „Schulische Prävention im Bereich Verhalten“ einen Überblick für auf Evidenz überprüfte soziale Trainingsprogramme. Programme dieser Art stellen einerseits phasenweise eine unter Umständen letzte Möglichkeit dar, um den soeben erwähnten Schülerinnen und Schüler-Kreis überhaupt wieder für curricular verbindliche Bildungsangebote aufzuschließen und in unterrichtlichen Kontexten zu erreichen (vgl. 2015, S. 99-144).“

Folgende Übersicht gibt thesenartig einen orientierenden Überblick über mögliche Ansätze sonderpädagogische Förderung im Kontext Unterricht:

Quelle der Abbildung: Lang, A. und Walbert, G. (2021): Variable sonderpädagogische Unterrichtsplanung – neue Impulse der sonderpädagogischen Unterrichtsplanung in der Fachrichtung Emotionale und soziale Entwicklung. In: Zeitschrift für Heilpädagogik, Ausgabe 1, 2021, S. 27

Abschließend erscheint mir das Einnehmen einer soziologische Perspektive

hilfreich, um noch besser verstehen zu können, mit welcher sonderpädagogischen Haltung ES-Lehrkräfte Ihrer Arbeit begegnen können, um SuS für ihre Angebote aufzuschließen:

Unter dem sogenannten soziologischen Aspekt weiß die ES-Pädagogik seit Jahrzehnten vollumfänglich über die Prozesse, die zu Zuschreibungen von Auffälligkeiten, Andersartigkeiten und Gestörtsein führen umfänglich Bescheid. Als Stichworte genannt seien hier labeling approach, symbolischer Interaktionismus und Theorie der Anomie, vertiefendes Wissen hierzu findet sich z. B. im Klassiker von Myschker, Verhaltensstörungen bei Kindern und Jugendlichen, bereits seit den 90er Jahren unter dem Kapitel Verursachung und Entstehung von Verhaltensstörungen oder noch umfassender betrachtet in Günther Cloerkes „Soziologie der Behinderten“ (2007).

Wenn also unserer westlichen OECD-Hochleistungsgesellschaft eine Erwartungshaltung immanent ist, die erwartet, dass ein Mensch (hier: Schülerinnen und Schüler) die für gelingende soziale Interaktionen bedeutsamen Qualifikationen entwickelt und sie im Sinne der gesellschaftlich (expliziten und impliziten Regeln entsprechenden) Normen realisiert, ist es nur folgerichtig, dass Menschen, die diesen Erwartungen nicht entsprechen, als abweichend definiert und zu Außenseitern gestempelt werden (vgl. Myschker 1996, S. 98-106).

Insgesamt betrachtet sehe ich es als Hauptaufgabe von ES-Pädagogik an, im Wissen dieser gesellschaftlichen und individuellen Prozesse professionell klare Position zu beziehen und immer wieder auch in die Öffentlichkeit zu tragen, dass aus dieser soziologischen Sicht die Kernproblematik der Verhaltensstörung nicht im Individuum, sondern in sozialen Gegebenheiten und Erwartungen zu suchen ist (vgl. ebd. S. 98-106).

Ich bin fest überzeugt, das ES-Lehrkräfte, die SuS an dieser Stelle nicht in Wort und Tat angemessen in einem gesellschaftskritischen Sinn entgegentreten, diese SuS nicht für ihre Inhalte – egal welcher Qualität – werden aufschließen können.

Insgesamt spiegelt sich in dieser Dimension der Haltung und Beziehung auch die Fähigkeit von ES-Lehrkräften zu dialogischer sonderpädagogischer Förderung wider. Die Beziehung ES-Spezialist*in <=> SuS ist zwar vertikal strukturiert, kann aber authentisch gestaltet zu einer horizontalen Ebene von Mensch zu Mensch gelebt werden und ein ernsthaftes Werben um Gehör, Angebot zur Mitarbeit und zum Bereitsein für „Neues Wagen“ ermöglichen und so SuS aufschließen, die sich vorher verschlossen zeigten.

3. Dimension der Adaptivität der Unterrichtsinhalte („Maßanzug statt Konfektion“)

SuS mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf stellen innerhalb der Sonderpädagogik eine besondere Gruppe dar. In der Regel unterliegt die Feststellung des Unterstützungsbedarfs einem systemischen „Versagen“ der vorherig zuständigen Bildungsinstitution zu Grunde (im Sinne von „er/sie ist an diesem Lernort“ nicht mehr (meistens) beschulbar, ohne sich und andere an Bildungspartizipation nachhaltig zu stören). Sonderpädagogik ist im deutschen Schulsystem nach wie vor subsidiär organisiert, sie greift erst dann, wenn es eigentlich zu spät ist: Stein und Müller beschreiben dieses Wait-to-fail-Prinzip als Problem der ES-Pädagogik (vgl. 2018, S. 122):

Am klassischen curricular gebundenen Fachunterricht der Allgemeinen Pädagogik liegt es vermutlich nie/nicht hauptsächlich, dass SuS sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf in ES entwickeln/zugeschrieben bekommen, zumindest dann, wenn dieser von einer gewissen pädagogischen, fachlichen und didaktischen Qualität getragen ist.

Allerdings ist das Phänomen beobachtbar, dass Unterricht aus ES-Perspektive zu sehr an normativen Leistungs- und normativen sozialen Bezugssystemen orientiert ist, sodass das ein individualisiertes entwicklungsorientiertes Bezugssystem kaum bekannt und noch seltener im Kontext Allgemeiner Pädagogik umgesetzt wird (vgl. Breitenbach 2014, S. 63ff).

Adaptiver sonderpädagogischer Unterricht verändert das Lehr-Lernangebot – nicht den Menschen

„Adaptivität von sonderpädagogischem Unterricht wird als unbestrittene Notwendigkeit erachtet, sodass sich Unterricht und die Gestaltung von Schule an sich aus der grundsätzlich vorzufindenden Unterschiedlichkeit der Schülerschaft wie selbstverständlich eben seiner Zielgruppe anpassen muss (international wird diesbezüglich von der ATI-Forschung gesprochen, „aptitudetreatment interaction“, vgl. Walter, 2008, S.1). Für adaptiv gestaltete Lehr-Lern-Situationen bietet ein systemisches Verständnis von Verhaltensstörung, wie es beispielhaft Schleiffer (vgl. 2013, S. 13ff.) im Grundlagenwerk seiner systemischen Entwicklungspsychopathologie darstellt, große Chancen: Unter systemtheoretischer Perspektive meint psychische Störung oder Verhaltensstörung (gemessen an normativen Erwartungen in verschiedenen Kontexten, sprich der Umwelt) den Prozess, der die besonderen Operationen und Verhaltensweisen umfasst, die das psychische System im Sinne von Selbsthilfemechanismen einsetzt, um seine durch prekäre Kontextbedingungen gefährdete autopoietische Reproduktion aufrechtzuerhalten. Dieser Prozess kann als sinnvolles Handeln betrachtet und theoretisch nachvollzogen werden. Es lässt sich also feststellen, dass unsere Disziplin weniger das ausschließliche Verändern der Schülerinnen und Schüler intendieren sollte, sondern vielmehr ein Verständnis davon entwickeln muss, einen Kontext im Unterricht zu schaffen, in dem individuelle und soziale Entwicklungsprozesse entstehen können. Zusätzlich müssen Angebote geschaffen werden, die ein hohes Maß an Anschlussfähigkeit für Schülerinnen und Schüler ermöglichen (vgl. Opp et al., 2001, S. 173)“ (Lang und Walbert 2021, S. 26).

Maßanzug sonderpädagogischer Unterricht?

Die Analogien „Maßanzug und Konfektionsgrößen“ aus der Modeindustrie helfen mir, zu verdeutlichen, was ich meine: Im Artikel „Variable sonderpädagogische Unterrichtsplanung (…)“ (ebd. 2021, S. 27ff) legen der Kollege Walbert und ich ausführlich dar, wie Adaptivität aus unserer Überzeugung konkret maximal erhöht werden kann. Ich benutze in diesem Kontext gerne diese Analogie aus der Modebranche, indem ich die fachdidaktischen, curricular verankerten Unterrichtsinhalte als (teilweise sehr hochwertige und hochpreisige) Designer-Mode beschreibe, die allerdings in Konfektionsgrößen angeboten wird und somit nicht den vielfältigen individuellen Gegebenheiten aller Menschen (hier: individuelle Lernvoraussetzungen von SuS) gerecht werden kann. Sonderpädagogische Förderung (im Kontext Unterricht) erscheint in dieser Analogie vielmehr wie ein maßgeschneidertes Kleidungsstück, welches kein bekanntes und renommiertes Modelabel trägt, dafür aber den individuellen Besonderheiten der Trägerin/ des Trägers entspricht.

4. Dimension sonderpädagogischer Förderung in überfachlichen Bereichen

Diese Dimension umfasst all jene Bereiche des Lernens und der Entwicklung, die von den klassischen curricular verankerten Fachdidaktiken & -disziplinen der Allgemeinen Pädagogik nicht abgedeckt/ beinahe ignoriert werden.

Der eingangs genannte „Blick von außen“ auf die Sonderpädagogik rückt diese Dimension sonderpädagogischen Wirkens in meiner Wahrnehmung stark in den Fokus sonderpädagogischer Förderung. Ebenso wirkt aber auch der erwähnte „Blick von innen“, also aus sonderpädagogischer Expertise betrachtet, da das Label „sonderpädagogische Förderung“ klassischerweise seit Jahrzehnten als eine Art Quasialleinstellungsmerkmal die „Förderung in Entwicklungsbereichen“ dem fachlichen Fokus der Allgemeinen Pädagogik entgegensetzt.

Zumindest aus meiner ES-Perspektive möchte ich hier folgende kritische Anmerkungen zu dieser Fokussierung darstellen – und stark dafür plädieren, alle vier Dimensionen gleichzeitig im Auge zu behalten und systematisch, je nach (individueller) Notwendigkeit in Ihrer Fokussierung zu variieren, wie es Walbert und ich in der variablen sonderpädagogischen Unterrichtsplanung aufzeigen (2021).

Was unter der klassischen dualen sonderpädagogischen Unterrichtsplanung zu verstehen ist, wurde zahlreich von verschiedensten Autorinnen und Autoren verschriftlicht und konzeptuell begründet.
Genannt seien an dieser Stelle beispielhaft

  • Leidigs und Urbans duale Unterrichtsplanung (2017),
  • das vollumfängliche sonderpädagogische Förder- und Beratungskonzept Fördern planen von Flott-Tönjes et al. (2018) oder
  • Leidigs, Hennemanns und Hillenbrands „Integration sozial-emotionalen Lernens im (Fach-) Unterricht“ (2020) oder
  • Leidig, Hennemann und Hillenbrand in „Integration sozial-emotionalen Lernens im (Fach-)Unterricht“

und unzählige sonderpädagogische Fachwerke (fachrichtungsübergreifend), deren Hauptfokus sonderpädagogischer Förderung in der Förderung überfachlicher Kompetenzen (in den sogenannten Entwicklungsbereichen) verortet werden kann.

Über die Jahre und Jahrzehnte hinweg wurden aus den benachbarten Disziplinen Medizin, Psychologie und der allgemeinen Erziehungswissenschaft neue Erkenntnisse und neue Paradigma aufgenommen und in die sonderpädagogische Förderung implementiert (wie z. B. systemische, konstruktivistischer und neueste Erkenntnisse der Lernforschung und Entwicklungspsychologie).

Warum plädiere ich für die Erweiterung des Verständnisses sonderpädagogischer Förderung in ES?

Aufgrund meiner eigenen Arbeitserfahrungen im ES-Alltag und meiner Einschätzung aus Lehrer*innenausbilder verdichtete sich bis heute die Überzeugung, dass die alleinige Fokussierung auf überfachliche Förderung alle oben genannten Wirkeffekte überlagert und beinahe in Vergessenheit geraten lässt und den Großteil der zu leistenden sonderpädagogischen Förderung in ES auf die erwähnte Planung und Durchführung von überfachlichen Unterricht reduziert, obwohl ich im oberen Teil die Bedeutung der Wirkeffekte sonderpädagogischer Förderung in ES ausführlich darlegte und insbesondere die o. g. subjektzentrierte Interventionspädagogik kritisch sehe.

Zudem hege nicht nur ich Zweifel an dieser Fokussierung auf Überfachlichkeit:

Klarheit über Wirkeffekte sonderpädagogischen Unterrichts?

Auf welcher Ebene entfaltet sonderpädagogischer Unterricht Wirkung? Mir ist derzeit noch viel zu wenig Literatur vorhanden, die explizit die Wirksamkeit oder gemessene Effekte sonderpädagogischer Förderung untersucht und beschreibt und die Fixierung auf die überfachliche Förderung bestärken könnte. Bekannte evidenzbasierte Trainingsprogramme sozialer und emotionaler Fähigkeiten liegen zahlreich vor, einen Überblick geben Hennemann et al. (2015, S. 99-144). Die Wirkeffekte lassen sich allerdings eher als schwache oder mittlere Effektstärken nachweisen, wie z. B. der Dissertationsschrift Hens´ beispielhaft entnommen werden kann (vgl. Hens 2007, S: 167ff.). 2008 zeigt Walter Schlees identifiziertes „Dilemma der deutschen Förderdiagnostik“ (Walter 2008, S. 2) in sehr pointierter Art und Weise auf, welche Diskrepanz es zwischen „Wollen und Können sonderpädagogischer Förderdiagnostik“ gäbe (vgl. ebd., S. 2). Walter bezieht sich auf ein Interview Schlees mit der Zeitschrift Heilpädagogik Online aus 2007, in welchem dieser deutliche Kritik an der sonderpädagogischen Förderdiagnostik (und somit meiner Einschätzung nach auch an den der Förderung zugrunde liegenden Entwicklungsbereichen der Sonderpädagogik) formuliert: „Oder haben Sie von systematischen Untersuchungen gehört, die unter kontrollierten Bedingungen nachgewiesen haben, dass seit der Einführung der sogenannten Förderdiagnostik Sonderschülern in signifikanter Weise besser geholfen werden konnte? Ist Ihnen von gesicherten Erfahrungen berichtet worden, dass seither die Qualität und die Erfolgsquote in der Sonderpädagogik glaubhaft gestiegen seien? Nein – die Idee von der Förderdiagnostik basiert (…) auf einem frommen, jedoch naiven Wunsch“ (Schlee, 2007, S. 61). Eben jene beschriebenen Bereiche (klassischerweise als Förderziele oder Entwicklungsanliegen benannt) intendieren Konzepte dualer Unterrichtsplanung allerdings als alleinige Ziele von sonderpädagogischer Förderung. Mittlerweile existieren einige, hier nur kurz erwähnte, Publikationen, die allerdings entweder nicht exakt die o. g. Wirkeffekte als Gegenstand der Betrachtung haben (z. B. Fingerle & Ellinger 2008, „Sonderpädagogische Förderprogramme im Vergleich“) oder wie Casale, Hennemann und Grosche (2015, vgl. S. 325) feststellen, dass die erforderlichen Gütekriterien von Wirksamkeitsüberprüfungen, z. B. vollständig randomisierte Forschungsdesigns im Kontext einer Schulklasse, nicht realisierbar erscheinen.

Worauf schließe ich auf Grundlage dieser kritischen Erkenntnisse nun für sonderpädagogische Förderung? Wenn der Wirkeffekt-Nachweis von den erwähnten hochspezialisierten Trainings, deren Kontext in der Durchführung unterstellbar deutlich kontrollierter geschieht als sonderpädagogisches Unterrichtsgeschehen, bereits eher weniger starke nachweisbare Effekte produziert, wie könnte dies dann eben der alltägliche sonderpädagogische Unterricht? Die kompensatorischen oder Kompetenzaufbau intendierenden Ziele sonderpädagogischer Förderung in ES tragen natürlich aber vermutlich lediglich einen Teil zum Wirkeffekt sonderpädagogischer Förderung bei.  Warum dann ausschließlich hierauf fokussiert fördern?

Ich plädiere daher für ein deutlich erweitertes Verständnis sonderpädagogischer Förderung in ES und habe in den oben beschriebenen vier Dimensionen eine thesenartige Begründung dieses Verständnisses aufgezeigt.

Meines Erachtens führt erst die umfassende Beachtung aller vier Dimensionen zu theoriegeleiteter qualitativ hochwertiger und ganzheitlicher, wirksamer und somit systematisch planbarer sonderpädagogischer Förderung in ES. Sonderpädagogischer Unterricht kann auf Grundlage dieser vier Dimensionen variabel geplant, durchgeführt und reflektiert werden, indem wir ES-Lehrkräfte uns bei der Planung und im Nachbereiten von sonderpädagogischer Förderung mit der Beachtung dieser vier Dimensionen tiefergehend auseinandersetzen.

 

Literatur

(soweit nicht im Text verlinkt/benannt)

Ahrbeck, B, Willmann, M. (2010): Pädagogik bei Verhaltensstörungen. Kohlhammer

Arnold, R. & Arnold-Haecky, B. (2009). Der Eid des Sisyphos. Eine Einführung in die Systemische Pädagogik. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren

Breitenbach, Erwin (2014): Psychologie in der Heil- und Sonderpädagogik. Kohlhammer

Hennemann, T., Hövel, D., Casale, G. & Fitting-Dahlmann, K. (2015). Schulische Prävention im Bereich Verhalten. Stuttgart: Kohlhammer

Leidig, T., Urban, M. (2017). Die duale Unterrichtsplanung am Beispiel der sozialen und emotionalen Entwicklungsförderung - didaktische Gestaltungsmöglichkeiten für den inklusiven Unterricht. Potsdamer Zentrum für empirische Inklusionsforschung (ZEIF), 2017, Nr. 5. Verfügbar unter https://www.uni-potsdam.de/fileadmin/projects/inklusion/PDFs/ZEIF[1]Blog/Urban_Leidig_2017_Die_duale_Unterrichtsplanung.pdf [16.04.2020]

Myschker, N. & Stein, R. (2014). Verhaltensstörungen bei Kindern und Jugendlichen. Erscheinungsformen – Ursachen – Hilfreiche Maßnahmen. Stuttgart: Kohlhammer

Myschker, N. (1996): Verhaltensstörungen bei Kindern und Jugendlichen. Kohlhammer

Palmowski, W. (2007). Nichts ist ohne Kontext. Systemische Pädagogik bei „Verhaltensauffälligkeiten“. Dortmund: verlag modernes lernen

Prengel, A. (2019): Pädagogische Beziehungen zwischen Anerkennung, Verletzung und Ambivalenz. Opladen 2019

Stein, R. & Stein, A. (2014). Unterricht bei Verhaltensstörungen. Stuttgart: Klinkhardt UTB

Stein, R. & Müller, T. (2018). Inklusion im Förderschwerpunkt Emotionale und soziale Entwicklung. Stuttgart: Kohlhammer

Walter, J. (2008): Adaptiver Unterricht erneut betrachtet: Über die Notwendigkeit systematischer formativer Evaluation von Lehr- und Lernprozessen und die daraus resultierende Diagnostik und Neudefinition von Lernstörungen nach dem RTI-Paradigma. In: Zeitschrift für Heilpädagogik, 59, S. 202-215

Willmann, M. (2008): Sonderpädagogische Beratung und Kooperation als Konsultation. Theoretische Modelle und professionelle Konzepte der indirekten Unterstützung zur schulischen Integration von Schülern mit Verhaltensproblemen in Deutschland und den USA, Verlag Dr. Kovac

Willmann, M. (2012): De-Psychologisierung und Professionalisierung der Sonderpädagogik,  Kritik und Perspektiven einer Pädagogik für „schwierige“ Kinder,

Hennemann, T., Hövel, D., Casale, G., Fitting-Dahlmann, K. (2015): Schulische Prävention im Bereich Verhalten, Reihe Fördern lernen - Prävention, Band 19, Hg. Stephan Ellinger, Kohlhammer

 

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