Wie finde ich meine Rolle? Lehrkrafthandeln vollzieht sich im ES-Klassenraum auch im Entwickeln einer individuellen tragfähigen Rolle, die zu einem selbst passt
von Alexander Lang
„Es ist wohl kein historischer Zufall, dass das Wort Person in seiner ursprünglichen Bedeutung eine Maske bezeichnet. Darin liegt eher eine Anerkennung der Tatsache, dass jedermann überall und immer mehr oder weniger bewusst eine Rolle spielt. In diesen Rollen erkennen wir einander. (…) In einem gewissen Sinne ist die Maske unser wahres Selbst; (unsere Rolle) ist das Selbst, das wir sein möchten.“ (Park nach Goffmann 2010, S. 21).
Die Lehrkraftrolle ist das Selbst, dass wir sein müssen, um im heraus- und überfordernden ES-Schulalltag dauerhaft bestehen zu können; je authentischer sie gestaltet werden kann, umso einfacher scheint sie individuell ausgestaltet zu werden und ES-Lehrkräften als hochwirksames Arbeitsmittel dienen zu können (frei nach Hatties visible learning, „the teacher matters“-Erkenntnissen: „Lehrperson“).
Lehrkräfte sind in einer Kontingenzbewältigungsfalle
Schulalltag bedeutet als Kerntätigkeit auch im sonderpädagogischen ES-Lehramt die Durchführung von Unterricht. Dieser ist per se bereits in der Allgemeinen Pädagogik (mit Schülerinnen und Schülern, die i. d. R. an beinahe allen Angeboten good enough partizipieren) nach Oser ein theoretisch kaum vorhersehbar beschreibbares Kulturprodukt. Er geht sogar so weit und sagt, dass es in Wirklichkeit im Unterricht gar keine Linearität in der Umsetzung von vorher Geplantem geben kann und spricht von Unterrichten als Emergency-Room-Gegebenheit: „Ein Kind kann nicht folgen, ein anderer stört, einige vergessen ihr Buch, verlieren das Material, sind innerlich abwesend, sind unterschiedlich motiviert, ein Medium funktioniert nicht, ein Baukran vor dem Schulzimmer stört etc. Die Lernsituation des Klassenzimmers gebärdet sich als Kontigenzbewältigungsfalle (…).“ (Oser 2000, S. 82). Lehrkräfte müssen unbedingt in der Lage sein, eine Balance zwischen der Linearität der Lernintention und der Brüchigkeit der Lernsituation herzustellen.
Diese von Oser beschriebenen Herausforderungen des Unterrichtens können im Kontext des Planens, Durchführens und der Reflexion von Unterricht und Schülerinnenverhalten in ES als kumulierter, als hochverdichtete Intensität des ohnehin schon komplexen Phänomens Unterricht verstanden werden (Lang 2024, S. 17ff). Für diese Herausforderungen erscheint es hilfreich, beinahe unerlässlich, aus einer überzeugenden und bewusst entwickelten Rolle als ES-Lehrkraft heraus, zu (re-)agieren!
Goffmann beschreibt es als überaus schwer, die eigene Rolle (hier ES-Lehrkraft) wirkungsvoll zu gestalten und bemüht Sartre, der das Bemühen eines Schülers wie folgt sieht: „Der aufmerksame Schüler, der aufmerksam sein will, den Blick an den Lehrer geheftet, die Ohren weit aufgetan, erschöpft sich damit, den Aufmerksamen zu spielen, derart, dass er schließlich gar nichts mehr hört“ (2010, S. 33). Für ES-Lehrkräfte, die, wie weiter oben beschrieben, überdurchschnittlich häufig in herausfordernden Situationen (re-) agieren müssen, kann analog hierzu formuliert werden: Die souveräne, durchsetzungsstarke Lehrkraft, die Ruhe ausstrahlen und hierbei vor allem mehr Klarheit, Konsequenz und Souveränität vermitteln möchte, positioniert sich also vor dem oder der Störenden mit breiten Schultern, klarem Blick und das Souveräne mimend derart, dass diese Lehrkraft sich schließlich im klirrenden Gelächter der Klasse wiederfindet und die Situation (mal wieder) eskaliert.
Diese Erfahrungen können, in großer und wiederkehrender Anzahl folgend, die positive Selbstwirksamkeitsüberzeugung von ES-Lehrkräften beschädigen. Selbstwirksamkeitserwartung bezeichnet die Erwartung einer Person, aufgrund eigener Kompetenzen gewünschte Handlungen erfolgreich selbst ausführen zu können (vgl. Bandura 1977 und Seligman 1975). Sie gilt als eine entscheidende psychologische Größe für beruflichen Erfolg sowie für Gesundheit (vgl. Nolle 2022, S. 31/32). Es gilt also, eine ES-Lehrkraft-Rolle zu entwickeln, die o. g. Situationen (die nur beispielhaft für unzählige weitere heraus- und überfordernde Situationen im Kontext ES stehen soll, siehe weiter unten).
Wie finden ES-Lehrkräfte zu ihrer Rolle? Zu einer Rolle, die zu ihnen passt und aus der heraus sie allen Widrigkeiten des ES-Schulalltages trotzen kann?
Der Prüfungs- und Auftrittscoach Timo Nolle beschreibt die Tätigkeit als Lehrkraft als Auftrittstätigkeit. Rudi Rohde unterstützt seit vielen Jahren Lehrkräfte in Schulen, wie sie (re-)agieren können, wenn Nervensägen an ihren Nerven sägen (indem er Kommunikation und Körpersprache coacht, wie Konflikte mit Kindern und Jugendlichen gelöst werden können). Hierzu setzt er Bühnenelemente, Auftrittselemente, z. B. die Methode KEB, Kontrolliert eskalierende Beharrlichkeit, ein und setzt somit explizit Anleihen der Theaterpädagogik ein. Sollmann zitiert Molcho: „Körpersprache ist wie eine Muttersprache, die verlernt wurde, die aber jeder spricht“ (2013, S. 7). Körpersprache umfasst den gestischen, mimischen Anteil, die Bewegung, die Körperhaltung aber auch den stimmlichen, vokalen Ausdruck von Menschen und ist somit immer Kommunikation – und Kommunikation immer körpersprachlicher Ausdruck und körpersprachliches Handeln (vgl. ebd., S. 7-9).
Anmerkungen und praktische Umsetzungen/ Übungen durch und von Eva Weissenböck
Es folgt eine kurze Erklärung zum Handwerk des Schauspielens oder ein Nachgehen der Frage: „Was benötigt ein*e Schauspieler*in, um spielen zu können“.
Im Studium der Schauspielerei, welches im Schnitt 4 Jahre dauert, werden vor allem (ca. 2 Jahre) Körperwahrnehmung und Körperbewußtsein trainiert. Dies ist nötig, um in Folge bewusst das eigene Auftreten verändern zu können, also unterschiedlichste Rollen glaubhaft und wahrhaftig verkörpern zu können. Das Instrument des/der Schauspielers/in ist der Körper mit all seinen Ausdrucksmöglichkeiten, die ihm/ihr innewohnen, wie Haltung, Stimme, Stimmung / Gefühle, welche durch Mimik, Gestik, Stimme etc. zum Ausdruck kommen und eine Figur / Rolle in ihrer Vielschichtigkeit dem Publikum näherbringt und lebendig werden lässt.
Samy Molcho äußert sich wie folgt: „Ich frage meinen Körper: Bist du da?“
Je mehr Rollen/Charaktere/Figuren und den damit einhergehenden Ausdrucksmitteln ein/e Schauspieler/in „im Gepäck“/ im Repertoire hat, um so variabler, flexibler, vielschichtiger kann er/sie Figuren entstehen lassen.
Schauspieler*innen sind Puppe und Puppenspieler*in oder Instrument und Spieler*in einer Person. Je genauer ich also das Instrument kenne und beherrsche, umso größer ist mein Ausdrucks- und Umgangspotential.
Der Körper weiß nicht, dass er spielt. Dies weiß nur der Kopf. Daher erleben wir im Spiel alles körperliche Agieren als real. Die ist der Grund, warum das Theaterspiel eine immense Bereicherung im Verständnis und Umgang mit anderen Menschen und unterschiedlichsten Situationen ermöglicht, denn je mehr Töne ich auf meiner (Körper-)Tastatur kenne und benutze, umso größer ist meine Fähigkeit, sich an wechselnde Umstände und neue Anforderungen anzupassen und entsprechend darauf reagieren zu können.
Es finden sich also rasch genügend Hinweise auf Ansatzpunkte zur Entwicklung, Ausgestaltung und des Einstudierens der eigenen Rolle als ES-Lehrkraft!
In der Arbeit als Fachleitung für ES versuche ich, Elemente o. g. Bereiche gewinnbringend einzusetzen und werde hierbei von der Schauspielerin und Theaterpädagogin Eva Weissenböck (Max Reinhardt Seminar und Unterricht bei Samy Molcho) unterstützt. Folgende Elemente werden in unterschiedlicher Gewichtung durch kurze Impulsvorträge, eigenaktives szenisches Spiel aber auch in Form individueller Übungen und Reflexionsphasen eingesetzt:
- Rollenkonflikte erkennen (bürgerlich-akadamisches Milieu-Ich, oftmals nicht bürgerlich sozialisiertes Gegenüber)
Angeleitete Übungen mit Eva Weissenböck:
- Archetypen ausprobieren
- innerhalb kurzer Improszene in die andere Rolle schlüpfen und erleben
- Vor die Klasse treten im Sinne von „Auftreten“
- Bewusstmachung der Rollenwirkung (i. S. v. „wie komme ich rüber, wenn ich einen Raum betrete“?)
- Erkennen des eigenen körperlichen/verbalen Ausdrucks (Kennenlernen des Ichs)
- Reflexion des Ich-Seins im geschützten Raum (Ist „es“ passend? Bin ich zufrieden? Gibt es Veränderungswünsche?)
Angeleitete Übungen mit Eva Weissenböck:
- „Der Scan“: Selbst- und Fremdwahrnehmung im „einfachen“ Auftritt
- Die Schleppe („Wie bin ich drauf ?“ )
- Die Einstiegsintention („Was brauche ich, um souverän aufzutreten“ oder/und „Was braucht die Gruppe, vor die ich trete“? UND: „Womit kann ich es erlangen?“
- Bewusster Blick, unterschiedliche Gangarten, Emotionen,…
- Konflikte bewusst eingehen/meiden und dieses souverän(er) ausstrahlen
- Kraftvolle Pose/Position einnehmen können
- Körperliche Kongruenz: ansteckend gute Stimmung, bzw. Vertrauen erwecken aber auch überzeugend konsequent wirken können, Grenzen setzen können
Angeleitete Übungen mit Eva Weissenböck:
- Körperschwerpunkte wahrnehmen & verstärken
- „Wurzeln & Faden zum Stern“
- Posenspiel
- Hochstatus/Tiefstatus bewusst einnehmen können
Angeleitete Übungen mit Eva Weissenböck:
- „Inneres Gummiband“
- Merkmale von Hoch- und Tiefstatus kennen, ausprobieren und bewusst machen
- in kurzen Improszenen mit unterschiedlichen Status spielen
- Nach Konflikten („180 Puls“) „auf dem Weg zurück zum Pult“, Rückkehr in „gefühlte Normalität“ und diese auch wieder verkörpern können.
Aber auch: Emotional angefasst sein, aber „stark“ und rational bleiben.
Angeleitete Übungen mit Eva Weissenböck:
- Grundgefühle nach Rellstab
- Wechselbad der Gefühle
- Bewusstes Atmen
- Rudi Rohde KEB (Kontrolliert eskalierende Beharrlichkeit) praktisch einstudieren
- Arbeit mit der eigenen Stimme: laut aber nicht schrill, "Brustton der Überzeugung" einsetzen können, beiläufig leise sprechen können
Angeleitete Übungen mit Eva Weissenböck:
- „Viola 1- Viola 2 - Violine - Hollow“
- „Brunnenruf“/“Gähnschacht“
- Vokal Viereck
- Einstudieren einer Reaktion / eines Seinszustandes (körperlich, mimisch, verbal), die hilft, wenn es zu verbalen Beschimpfungen kommt
Angeleitete Übungen mit Eva Weissenböck:
- „Der Mülleimer“
- „Schablone“
- Unterstützender Einsatz von Videographie ergänzt die praktische Arbeit mit Körper, Stimme und Geist
Literatur
Bandura, Albert (1977): Self-efficacy. Toward a Unifying Theory of Behavioral Change. In: Psychological Review 84 (2), S. 191 – 215
Goffmann, Erving (2010): Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. Piper
Lang, Alexander (2024): Souverän inklusiv unterrichten (unveröffentlichtes Manuskript). Persen
Nolle, Timo (2021): Das Referendariat als Tanz für zwei: „Basiskompetenzen“ für Ausbildende und angehende Lehrkräfte. In: Seminar, 1, 2021.
Online verfügbar: https://dr-timo-nolle.de/wp-content/uploads/2022/02/BAK_21_1_Nolle.pdf (letzter Zugriff am 1.12.2023)
Oser, Fritz (2000): Emergency Room Schule. Erschwerende Rahmenbedingungen pädagogischer Professionalität. In: Beiträge zur Lehrerbildung 1, S. 82-84.
Seligman, Martin (1975): Helplessness. On Depression, Development and Death. Freeman and Comp
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