Nehmen psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen zu, werden Schüler*innen auffälliger?

von Alexander Lang

Viele Fachpublikationen zum Thema, auch ES-Fachliteratur, beziehen sich bei Fragen zur Prävalenz von psychischen Störungen bei Kindern und Jugendlichen auf die deutsche Studie des Robert-Koch-Instituts (RKI), auf KIGGS (irritierenderweise hat das Akronym KIGGS andere Buchstaben als der Name der Studie vermuten ließe: "Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland". Laut aktuellsten KIGGS-Ergebnissen dieser seit 2003 durchgeführten Langzeituntersuchung kann von 16,9% im Kindes- und Jugendalter in Deutschland ausgegangen werden (Jungen 19,1%, Mädchen 14,5%).

Die Basiserhebung (2003-2006) ergab insgesamt leicht höhere Werte, insbesondere Jungen bis zum jungen Erwachsenenalter wurden damals deutlich häufiger identifiziert (Jungen 23,6%, Mädchen 15,9%), wie auf Seite 39 nachzulesen ist.

Die einfache Antwort lautet also: "Nein", die heutigen Kinder und Jugendlichen haben nicht mehr psychische Störungen als früher.

Etwas komplexer wird die Sachlage, wenn differenziertere Betrachtungen stattfinden, denn auch wenn die absolute Anzahl an Kindern und Jugendlichen mit psychischen Störungen laut der seriösen KIGGS-Studie nicht zu-, sondern vielmehr abnahm, lassen sich allerdings auch folgende Trends feststellen: Im Zeitraum von 2009 bis 2017 ist die Diagnoseprävalenz von psychischen Störungen bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland um 22% gestiegen, nachzulesen beim Zentralinstitut der Kassenärztlichen Versorgung (ZI).

Die langen Wartezeiten (Artikel HAZ) insbesondere im Kinder- und Jugendpsychotherapeutischen Bereich, erklären sich, vor allem für externalisierende Störungen (wie Aggressivität), durch die nicht ausreichende Anzahl von psychotherapeutischen Angeboten.

Wie ist diese Zunahme an Diagnosen psychischer Störungen von Kindern und Jugendlichen zu erklären, wenn doch die Gesamtzahl von Kindern und Jugendlichen mit psychischen Störungen rückläufig ist?

Die Antwort kann in einer erhöhten Sensibilisierung gegenüber psychischen Erkrankungen, bzw. für die psychische Gesundheit, von Kindern und Jugendlichen aber auch in einer größeren Offenheit für eine therapeutische Behandlung gefunden werden, wie beim ZI nachzulesen ist.

Durch diese Phänomene erkläre ich mir auch weitestgehend die Lehrerzimmergespräche über die Zunahme von auffälligen Schülerinnen und Schülern:

Die Zunahme von Schüler*innen mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf in ES von 0,5% auf 1,2% aller Schüler*innen ist auf der einen Seite zwar immens ("ES Zahlen und Fakten"), auf der anderen Seite vermutlich auch durch eine Sensibilisierung gegenüber Verhaltensstörungen (Wocken sieht eine Zunahme von Schüler*innen mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf an Regelschulen, nicht an Förderschulen, und er kritisiert diese, seiner Meinung nach, Pathologisierung und psychischer Gesundheit aber auch durch utilitaristische und pragmatische Tendenzen unseres Schulsystems an sich zu erklären (frei nach Ahrbeck und Willmann 2016, S. 205ff).

Wockens kritische Feststellung könnte aus meiner ES-Sicht so erläutert werden:

Wenn die den Unterricht und das Schulleben am meisten störenden Schüler*innen und Schüler in der Segregation beschult werden (also an Förderschulen, da die Ressourcenlage eine weitere Beschulung in der Regelschule nicht ermöglicht), dann lassen sich die vorher unauffälliger auffallenden Schüler*innen und Schüler besser identifizieren aber verbleiben im Gemeinsamen Lernen (die Ressourcenlage der Regelschulen wird als ausreichend erachtet). Das sogenannte Ressourcen-Etikettierungs-Dilemma tut dann noch sein übriges und die ansteigenden Zahlen von Schüler*innen (mit Förderbedarf ES) in der Inklusion bei annährend gleichbleibender Segregation sind verständlich - ganz ohne Zunahme von psychischen Störungen einerseits und ganz ohne auffälliger werdende Schüler*innen andererseits.

Eine ganz andere Herausforderung stellen laut Hillenbrand (in MesK, S. 6ff) Schüler*innen mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf in ES dar, die zunehmend häufig als in psychischen Risikolagen lebend identifiziert werden und die Praktiker*innen im ES-Bereich durchaus bekannt sind: Schüler*innen, die an klassischen sonderpädagogisch-schulischen Maßnahmen nicht ausreichend partizipieren können.

 

Literaturhinweis

Bernd Ahrbeck, Marc Willmann: Pädagogik bei Verhaltensstörungen. Kohlhammer 2010, S. 205ff

Qua-LiS NRW (2019): Matrix emotionaler und sozialer Kompetenzen (MesK). Praxisorientierte Arbeitshilfe, Soest.
Verfügbar unter https://www.schulentwicklung.nrw.de/q/upload/Inklusion/mesk/broschuere_mesk.pdf [08/2019]

 

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