Nachteilsausgleich - föderales Wirrwarr & Informationen zur Planung und Umsetzung
von Alexander Lang
Im Zuge der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention (in Deutschland wurde sie 2009 ratifiziert) beschloss die KMK 2011 "Inklusive Bildung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen in Schulen". Auf Seite 10 wird hier explitzit auch die verbindliche Einführung der Regelung von sogenannten Nachteilsausgleichen geregelt (KMK 2011):
"Die Anwendung und Nutzung von Formen des Nachteilsausgleichs sind wesentliche Bestandteile eines barrierefreien Unterrichts während der gesamten Schullaufbahn. Nachteilsausgleiche dienen dazu, Einschränkungen durch Beeinträchtigungen oder Behinderungen auszugleichen oder zu verringern. Sie sollen ermöglichen, individuelle Leistungen mit anderen zu vergleichen. Der Nachteilsausgleich soll auch den Zugang des Kindes oder Jugendlichen zur Aufgabenstellung und damit die Möglichkeit ihrer Bearbeitung gewährleisten. Mit Hilfe des Nachteilsausgleichs sollen Kinder und Jugendliche mit besonderen Lernbedürfnissen ihre mögliche Leistungsfähigkeit ausschöpfen. Es gilt, Bedingungen zu finden, unter denen Kinder und Jugendliche ihre Leistungsfähigkeit unter Beweis stellen können, ohne dass die inhaltlichen Leistungsanforderungen grundlegend verändert werden. Eine Leistung, die mit Maßnahmen eines Nachteilsausgleichs erbracht worden ist, stellt eine gleichwertige, zielgleiche Leistung dar. Die Anwendung von Formen des Nachteilsausgleichs gibt insbesondere den Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen die Chance, Kompetenzen unter angemessenen äußeren Bedingungen nachzuweisen."
Alle 16 Bundesländer waren nun aufgerufen, diese Nachteilsausgleich-Regelungen umzusetzen.
Kurze Übersicht zur Begrifflichkeit Nachteilsausgleich:
- SuS müssen zielgleich (!) beschult werden (zieldifferente Beschulung von SuS der Bildungsgänge Geistige Entwicklung und Lernen sind so ausgeschlossen)
- Wer kann Nachteilsausgleiche erhalten?
Zielgruppen sind SuS mit Behinderungen, chronischen Erkrankungen, sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf (ASS gilt teilweise als eigenständiger sonderpädagogischer Förderschwerunkt) und auch akuten Erkrankungen oder dauerhaften sog. Teilleistungsstörungen (wie Dyskalkulie oder LRS. Auch für SuS mit ADHS können Nachteilsausgleiche gewährt werden: in diesen Fällen müssen der Schulleitung (dort wird der Nachteilsaugleich i. d. R. beantragt) ärztliche Attestierungen vorliegen, Selbstdiagnosen genügen hier nicht
- Was soll ein Nachteilsausgleich bringen?
Die SuS sind durch den Nachteilsausgleich "in die Lage zu versetzen, ihre Fähigkeiten im Hinblick auf die gestellten Anforderungen nach-
zuweisen. Diese Hilfen und Unterstützungsmaßnahmen werden als Nachteilsausgleiche bezeichnet. Ein Nachteilsausgleich soll im Sinne einer Kompensation des mit einer Behinderung und/oder einem Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung verbundenen Nachteils dienen. Dabei ist der individu- ellen Benachteiligung angemessen Rechnung zu tragen, ohne dass das Anspruchsniveau der Leistungsanforderungen und damit der Anspruch an die Qualität des Ergebnisses geringer bemessen werden." (MSB NRW, "Arbeitshilfe Gewährung von Nachteilsausgleichen (...)", S. 3)
- Nachteilsausgleiche gelten auch für den Bereich der Berufsausbildung (GoStudent)
- Einige Bundesländer haben detaillierte Checklisten für unterschiedliche Gruppen von SuS erstellt, wie z. B. Rheinland-Pfalz für autistische Schüler. Diese Checklisten und konkrete Fallbeispiele geben einen umfassenden Überblick, wie Nachteilsausgleich sowohl im Schulalltag aber auch in Leistungssituationen gestaltet werden können:
1) Übersicht der Nachteilsausgleich-Checklisten für Schülerinnen und Schüler mit ASS, Reinland-Pfalz
- Gibt es bekannte Schwierigkeiten bei der Umsetzung von Nachteilsausgleichen?
Meiner Erfahrung nach gestaltet sich die Gewährung und Umsetzung von Nachteilsausgleichen im Kontext Förderschule möglicherweise weniger kompliziert, da vermutlich sonderpädagogische Lehrkräfte möglicherweise durch ihre Ausbildung individualisierendes Arbeiten samt dem Finden von kompensatorischen Maßnahmen als integralen Bestandteil ihrer Arbeit verstehen. Wahrscheinlich hat es aber auch mit der Zusammensetzung der Schülerschaft zu tun, denn im Kontext Förderschule ist das Thema "ich fühle mich benachteiligt, weil eine Mitschülerin auf eine andere Art und Weise lerntoder etwas bekommt und ich nicht" nicht so konfliktbeladen, wie im Kontext Inklusion. In meiner Tätigkeit als Seminarausbilder erlebe ich gar nicht so selten die Rückmeldung meiner inklusiv ausgebildeten Lehramtsanwärterinnen, sie könnten z. B. dem autistischen Schüler xy nicht einen Laptop als Schreibhilfe anbieten (er verweigert die handschriftliche Mitarbeit), weil das Lehrerteam der Lerngruppe Bedenken hegte, dass dann alle SuS der Klasse nur noch mit einem Laptop schreiben möchten => es sollte eine Lerngemenschaftsatmosphäre geschaffen werden, in der transparent über die Diversität von Individuen und unterschiedlichen Ansprüchen auf Unterstützungen und gestelten Herausforderungen gesprochen und Schule so gemeinsam gelebt werden kann.
- Wie wird ein Nachteilsausgleich beantragt?
Jedes Bundesland hat hier verschiedene Regelungen: i. d. R. kann der Antrag bei der Schulleitung (formlos oder mit bestimmten Formularen) gestellt werden. Die Schulleitung aber auch die sonderpädagogischen Lehrkräfte der Schule/ Ausbildungsinstitution sollten aber in jedem Fall kundig hierzu beratende Auskünfte geben können.
- Die Umsetzung sollte, wie sonderpädagogische Förderung in ES grundsätzlich - in Form eines dialogischen Prozesses realisiert werden: gemeinsam mit der Schülerin und gegebenenfalls unterstützende Erwachsene (Eltern, Ezb., Schulbegeitung).
Die folgende Tabelle zeigt eine Übersicht aller 16 Bundesländer, Stand 07/2023 (ohne Gewähr der Vollständigkeit oder Richtigkeit!):
Bundesland & Link/ Links zu den Infos |
KMK Grundlage 2011 zur Umsetzung von Nachteilsausgleich im Zuge inklusiver Beschulung: https://www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/2011/2011_10_20-Inklusive-Bildung.pdf |
Baden-Württemberg |
https://km-bw.de/,Len/startseite/schule/Besondere+Foerderbedarfe |
Bayern |
Umfangreiche Informationsbroschüre, die auch den Bereich „Notenschutz“ einbezieht: |
Berlin + Brandenburg |
ð Klasse Informationsseite! |
Bremen |
Hamburg |
Hessen |
https://www.rv.hessenrecht.hessen.de/bshe/document/hevr-SchulVerhGVHE2011V4P7 https://gemeinsamleben-hessen.de/de/dokumente/GemeinsamlebenHessen_Brosch_Nachteilsausgleich.pdf |
Mecklenburg-Vorpommern |
Niedersachsen |
NRW |
https://www.schulministerium.nrw/gewaehrung-von-nachteilsausgleichen |
Rheinland-Pfalz |
Informative und sehr gelungene, umfangreiche Homepage zu Nachteilsausgleichen! https://inklusion.bildung-rp.de/informationen-fuer-eltern-und-schulen/behinderung/autismus/autismus/nachteilsausgleich.html (Checklisten ASS) https://inklusion.bildung-rp.de/informationen-fuer-eltern-und-schulen/behinderung/autismus/autismus/nachteilsausgleich/fallbeispiele.html (Fallbeispiele) |
Thüringen |
Sachsen-Anhalt |
Sachsen – hier gibt es keine explizite Regelung zu Nachteilsausgleich (bzw. ich finde sie nicht) |
https://www.schule.sachsen.de/foerderung-bei-teilleistungsschwaechen-5427.html Quelle "keine explizite Regelung": http://cms.glgl-sachsen.de/media/PDF/Elternratgeber_Sachsen.pdf (Punkt Nachteilsausgleich) |
Saarland |
http://www.vorschriften.saarland.de/verwaltungsvorschriften/vorschriften/03_1853_dez_09.pdf https://www.lvl-saarland.de/index.php/schule/schulrechtliche-regelungen.html |
Schleswig-Holstein |
https://www.schulrecht-sh.com/texte/n/nachteilsausgleich.htm |
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