Prävention und Intervention bei Unterrichtsstörungen und Verhaltensauffälligkeiten - Maßnahmenkatalog

von Georg Walbert

Dieser Beitrag samt anhängendem vollständigen Maßnahmenkatalog (siehe ganz unten) ist von meinem geschätzten Kollegen Georg Walbert verfasst und ist ein umfangreiches und hilfreiches Instrument im Sinne eines Informations- und Ideennachschlagewerks. Prof. Dr. Thomas Hennemann et al. (2016) stellen diesen Maßnahmenkatalog in dem ES-Fachbuch "Schulische Prävention im Bereich Verhalten" auf Seite 89 als ein hilfreiches Element zur Gestaltung präventiv wirksamen Unterrichts vor. Ich freue mich sehr darüber, zu einer weitestmöglichen Verbreitung dieser umfangreichen Maßnahmensammlung beizutragen (Alexander Lang).

„Was soll ich denn bloß mit diesem Schüler machen?”

Oder: Gibt es Rezepte im Umgang mit Schülerinnen und Schülern in schwierigen pädagogischen Situationen?

Immer wieder werden wir Sonderpädagog*innen und hier im speziellen die Lehrerinnen und Lehrer der sonderpädagogischen Fachrichtung Emotionale und soziale Entwicklung gefragt, was in schwierigen pädagogischen Situationen zu tun ist. Die Kolleg*innen, die sich in einer herausfordernden oder auch extrem belasteten Situation befinden, möchten wissen, was genau bei bestimmten auffälligen, störenden Verhalten zu tun sei:

Gibt es da nicht genau die eine Maßnahme oder die eine Reaktion bei dem einen störenden Verhalten? Die Antwort ist: Leider nein! Es gibt keine Rezepte, nur eine Vielzahl von Möglichkeiten pädagogisch sinnvoll zu handeln.

Vor vielen Jahren entstand an einer meiner früheren Schulen eine erste Liste, die ich dann im Laufe der Jahre immer wieder erweitert und verändert habe. Mit eigenen Ideen, mit den Ideen von Kolleg*innen und von Lehramtsanwärter*innen.

Ich freue mich über Ihre Meinung und Ihre Rückmeldung zu dem Maßnahmenkatalog. Sehr bin ich auch an der Erweiterung des Maßnahmenkataloges interessiert und freue mich auf die Zusendung Ihrer Maßnahmen bzw. auf mögliche Ergänzungen. Auch kritische Anmerkungen sind selbstverständlich willkommen!

Vorweg noch einige Anmerkungen zu diesen Maßnahmen:

  • Ich habe bewusst auf eine Kategorisierung bzw. Hierarchisierung der Maßnahmen verzichtet (z.B. nach bestimmten Verhalten von Schülerinnen und Schülern), weil eine solche möglicherweise zu einer eher eingeschränkten Nutzung der anderen Möglichkeiten führt oder eine Pseudo-Wertigkeit suggeriert. Alle Maßnahmen können je nach Situation immer auch adaptiv genutzt werden. Was für die eine Lehrkraft in einer bestimmten Situation passt, muss noch lange nicht die Wahl einer anderen Lehrkraft sein. So ist immer Reflexion, Fantasie und Eigeninitiative gefragt.

  • Eine „Maßnahme“ erscheint mir jedoch grundlegend: Die professionelle, konstruktive Beziehung zu den Schülerinnen und Schülern.

  • Alle unten aufgeführten Maßnahmen haben nicht nur Vorzüge, sondern auch Nachteile; sie können produktiv genutzt, aber auch missbraucht werden.

  • Viele dieser Maßnahmen können einerseits als unterstützende Maßnahmen eingesetzt werden, andererseits können sie auch grenzziehende Maßnahmen sein. Eine Grenzsetzung kann auch eine Unterstützung sein.

  • Vor allem der situative Zusammenhang entscheidet über Wert oder Unwert einer dieser Maßnahmen. Es gibt i.d.R. nicht richtig oder falsch, sondern nur brauchbar oder (zurzeit, in dieser Situation) unbrauchbar. Eine Maßnahme kann in einem Fall brauchbar(er) sein und in einem anderen Fall eben nicht.

  • Viele dieser Maßnahmen müssen geistesgegenwärtig eingesetzt und einfallsreich ausgestaltet werden; es gibt keine Rezepte, die von allein wirken!

  • Grundsätzlich gilt: Fachlich guter Unterricht, genaue Kenntnisse der (Lern-) Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler (SuS), transparente Strukturen, Verfahrensweisen und Ziele, hilfreiche Rituale und unterstützende Visualisierungen, eindeutige Regeln und klare Konsequenzen sind die beste Prävention von Unterrichtsstörungen und auffälligem Verhalten!

  • Grundlage für die konstruktive Arbeit mit SuS in Schule und Unterricht ist die Pädagogische Geschlossenheit des Kollegiums – ohne die Pädagogische Freiheit aufzugeben!

Der Handlungszwang einer Situation wird es nicht immer zulassen, sich dieses Kataloges oder anderer Maßnahmen zu erinnern. Dennoch führt auch hier Übung zur raschen Verfügung über ein geeignetes und ggfs. auch über ein im Kollegium abgesprochenes Repertoire.

Darum noch ein paar Möglichkeiten, im Augenblick sachgerecht zu reagieren:

  • Nicht alles persönlich nehmen. Wir Lehrerinnen und Lehrer (LuL) sind oft austauschbare Ersatzobjekte für psychische Bedürfnisse, die auf den Unterricht als Störung wirken.

  • Nicht impulsiv, sondern besonnen reagieren, d. h. nach einer - und sei es kurzen - Besinnungspause.

  • Bewusstes Vermeiden der mit Sicherheit „falschen“, spontanen Reaktionsweise; erst danach Wählen einer wahrscheinlich richtigeren Reaktionsweise; dabei auch den Blickwinkel und die Erlebnisebene des Schülers/der Schülerin bedenken.

  • Wenn einem spontan nichts wirklich Kluges einfällt, den betreffenden SuS signalisieren, dass der Vorfall ernst genommen und eine Konsequenz zu einem späteren Zeitpunkt ausgesprochen wird – nach eigenem Nachdenken oder ggf. einer kollegialen Beratung.

  • Wenn einem überhaupt nichts anderes Sinnvolles einfällt: humorvoll -und damit menschlich souverän- zu reagieren ist nur selten falsch.

  • Die Abwehr von körperlichen Übergriffen, Aggressionsakten und kriminellen Handlungen ist eine andere Ebene.

 

Einige Auszüge aus dem Maßnahmenkatalog folgen hier, der gesamte Maßnahmenkatalog kann weiter unten als PDF heruntergeladen werden.

1. Aufbau einer tragfähigen Beziehung

Professionelle Beziehung; Kontinuität von Bezugspersonen; Interesse an der Schülerin/dem Schüler „Erziehung ist Beziehung“; Du bist mir wichtig! Du kannst mich nicht kündigen! ...

2. Klare, eindeutige Regeln und Strukturen

Klar abgesprochene, erarbeitete bzw. festgelegte und überschaubare Regeln (Stichwort: Regelwerk); Aushang schriftlich oder/und in Symbolen; eindeutige und konsequent eingehaltene Strukturen und Verfahrensweisen (feste Zeiten, ...); Sicherheit und Transparenz ...

3. Klare und eindeutige Konsequenzen

Klar abgesprochene und eindeutige Konsequenzen; evtl. Aushang schriftlich oder/und in Symbolen; die Konsequenzen sind allen Beteiligten bekannt und werden von allen LuL und anderen Mitarbeiter*innen der Schule akzeptiert und umgesetzt (Stichwort: Pädagogische Geschlossenheit!); Transparenz; Einbezug der Eltern bzw. Erziehungsberechtigten ...

4. Klare Anweisungen, deutliche Sprache

Klare, prägnante Ansagen und kein „Drumherumreden“; Ich-Botschaften; feste Position im Klassenraum; schülerorientierte Sprache und eindeutige (Arbeits-) Anweisungen; Ruhezeichen: akustisch und/oder optisch; Klarheit für beide Seiten ...

5. Verzögerung und Beharrlichkeit

LuL müssen nicht sofort Maßnahmen ergreifen: Durch Ankündigung und Vertagung („Ich akzeptiere dieses Verhalten nicht und es wird eine Konsequenz folgen!“) Handlungsspielraum und Zeit gewinnen für eine (kollegiale) Beratung und eine gute Lösung, nicht locker lassen (...)

20. Persönliche Betroffenheit und persönlichen Ärger zeigen

Reflektiert, aber deutlich Stellung beziehen; „Pädagogischen Brüll“ rauslassen: eigene Emotionen (kontrolliert und reflektiert!) deutlich machen ...

21. Regelmäßiges und zeitnahes Feedback

Direkte Spiegelung bzw. Rückmeldung des problematischen Verhaltens: „Stopp, so nicht!“; sofortiges Bemerken: „Ich habe dich gesehen!“; Transparenz; auch konstruktives, positives Verhalten rückmelden; ernst- und wahrnehmen; evtl. feste Zeiten für ein Feedback ausmachen: Schüler/innen-Sprechstunde; (Eltern-) Kontaktheft; Beobachtungsbogen ...

22. Abschottung/Isolierung/ruhige Ecke

Optisch isolierter bzw. akustisch ruhiger Sitzplatz als Konsequenz für störendes Verhalten bzw. um ungestört arbeiten und lernen zu können; hinter Stellwänden, Schallschutzkabine (positiv: „Büro“ oder „Lernbüro“); Gehörschutz-Kopfhörer; Nebenraum ...

23. Gesprächsangebote

- Diskussion(en) mit der Klasse

- Gespräche mit einzelnen Schüler*innen

- Gespräche mit Beratungslehrer*innen, Sozialarbeiter*innen, Schulleitung ...

- Regelmäßige Gespräche mit Eltern und Erziehungsberechtigten

Kein Totschweigen von Problemen; offener Austausch, offene Diskussion; gemeinsame Suche nach Lösungen; Kooperation(en) mit ...; Ernstnehmen der Themen und Schwierigkeiten; Akzeptanz; Unterstützung; Zukunftssicherung; Grenzsetzung ...

Wichtig: aktives Zuhören, „pädagogisches Grunzen“ …

24. Kooperation mit den Eltern bzw. Erziehungsberechtigten

Intensive Kontakte zu den Eltern/Erziehungsberechtigten aufbauen und pflegen; Signal an SuS: Du bist uns wichtig; LuL und Eltern machen sich Gedanken, Sorgen, agieren abgestimmt und gemeinsam; kein Ausspielen von LuL und Eltern durch SuS; Verantwortung gemeinsam wahrnehmen bzw. Eltern und Schule für jeweils ihre Bereiche; Abgleich der Wahrnehmungen, der Themen …

25. Innerschulische Kooperation

Gemeinsam mit den anderen LuL und Mitarbeiter*innen abgestimmte und von allen akzeptierten Regeln und Verfahrensweisen konsequent umsetzen; Verständigung auf gemeinsame Werte; Sicherheit und Rückendeckung bei den eigenen (Re-) Aktionen und Handlungen; gemeinsames Vorgehen bei Problemen besprechen; Sichtweisen und Wahrnehmungen austauschen (...)

45. Schülerinnen und Schüler selbst formulieren lassen

Bei Fehlverhalten die SuS auffordern: „Wie kannst du es gut machen?“, „Welches Verhalten ist jetzt besser?“, „Was kannst du noch tun?“; „Was glaubst/denkst du?“, „Woran kannst du merken…?“, „Woran kann ich merken, dass…“; SuS finden selbst eine gute Alternative; Verantwortung bei den SuS lassen bzw. den SuS geben ...

46. Verträge/Korrespondenz

Individuelle Verhaltensverträge; Ernstnehmen des Schülers/der Schülerinnen; was bis wann erledigt, eingehalten oder geklärt werden soll; Vertrag in „offizieller“ Form, Briefkopf der Schule und Unterschriften; „Briefe - Schreiben“ mit dem Schüler/der Schülerin als Alternative oder Ergänzung zum persönlichen Gespräch ...

47. Schriftliche Reflexion des Schülers/der Schülerin, Bericht

Zeit zum Nachdenken, Reflektieren oder Abstand gewinnen einräumen; Standpunkte reflektiert darlegen; Gesprächsgrundlage schaffen; Verantwortung beim Schüler/bei der Schülerin lassen ...

48. Reizworte, Bilder, Symbole

„Geheimworte“ um Verhaltensweisen zu durchbrechen – in schwierigen Situationen nennen; Bilder/Symbole zur Veranschaulichung und Verankerung; „Erinnerungsstein“ o.ä. im Mäppchen ...

49. Nonverbale Gesten, Körpersprache

Selbst einsetzen und beim Schüler/bei der Schülerin beachten/beobachten; Alternative zum Verbalen; („geheime“) Zeichen vereinbaren ...

50. Verwarnungs- bzw. Abmahnsystem: z. B. gelb ⇒ gelb-rot ⇒ rot ⇒ Raus!

Abgestuftes System: Schüler*in bekommt Grenze und erhält gleichzeitig eine Chance: „Denk noch mal nach!“, Visualisierung durch Punkte, Ampel, Wettersymbole, Smileys ...

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