Auf den Spuren der ontogenetischen Entwicklung des Mentalisierens, empathischer Fähigkeiten, der Perspektivübernahme und der Fähigkeiten einer Theory of mind. Wie können diese Kompetenzen gefördert werden?
von Alexander Lang
Auf den Spuren der ontogenetischen Entwicklung des Mentalisierens, empathischer Fähigkeiten, der Perspektivübernahme und der Fähigkeiten einer Theory of mind. Wie können diese Kompetenzen gefördert w
2021 griff ich erstmals die sonderpädagogische Förderung von Empathie, Perspektivübernahme und Theory of mind auf, indem ich Elemente aus der Schriftlichen Planung einer ehemaligen Auszubildenden, Nina Büser, aufgriff und in den Kontext einer variablen sonderpädagogischen Förderung stellte. In der Folge dieser ersten Ausarbeitungen interessierte mich tiefergehend, wie sich die genannten Kompetenzen ontogenetisch entwickeln und ausdifferenzieren und warum ich den Eindruck habe, dass viele Schülerinnen und Schüler in ES in diesen Kompetenzbereichen über unzureichend ausgeprägte Kompetenzstände verfügen. In diesem Beitrag werden zunächst ergänzend zum o. g. die Kompetenzbereiche der Theory of mind, der Empathie und der Perspektivübernahme kurz skizziert. Anschließend wird für diese Bereiche die ontogenetische Entwicklung von der Säuglingszeit bis zum Schulalter und darüber hinaus nachgezeichnet (ergänzt um Mentalisierungsfähigkeiten), um abschließend Hinweise zur Förderung dieser Kompetenzen aufzuzeigen.
Theory of mind
Unter einer Theory of mind wird in der Kognitionswissenschaft die Fähigkeit verstanden, anderen und sich selbst mentale Zustande zuzuschreiben (angefangen bei Empfindungen wie etwa Schmerzen bis hin zu komplexen Überzeugungen wie „Schülerin A glaubt, dass Schülerin B hofft, dass Schüler C es schaffen wird, die Lehrerin davon zu überzeugen, Schülerin B doch keine 5 in der Deutscharbeit zu geben, weil sie doch …“ und damit Handlungen vorherzusagen und zu erklären. Mittels solcher Theory-of-mind-Fähigkeiten verstehen wir uns und andere als psychische bzw. geistbegabte Lebewesen (vgl. Esken und Rakocy 2013, S. 444f). Das durch die Theory-of-mind entwickelte Verständnis geht über die physikalischen und beobachtbaren Eigenschaften des Geschehens hinaus und beinhaltet die inneren, nicht-beobachtbaren Vorgänge innerhalb der Person.
Die Theory of Mind beschäftigt sich mit solchen Annahmen und kann als alltagspsychologisch Konzept verstanden werden, welches uns ermöglicht, unser eigenes aber auch das Verhalten anderer (hypothetisch) sinnvoll erklärbar und auch vorhersehbar zu machen. Zur Entwicklung der Theory of min gehört ebenso, zu wissen, dass unsere Annahmen über die Motive und Gedanken anderer falsche Überzeugungen sein können (vgl. Dimitrova und Lüdmann 2014, S. 4ff). In der Entwicklungspsychologie werden verschiedene frühkindliche Fähigkeiten als mögliche Vorläuferkompetenzen einer Theory of Mind verstanden, wie z. B. das Symbolspiel, die Imitation, das Sich-Selbsterkennen im Spiegel sowie das frühe Verständnis von Blick- und Zeigegesten als auf ein Zielobjekt gerichtete Intention (vgl. Henning et al. 2009, S. 233ff).
Zum Testen, ob und in welchem Alter Kinder die Theory of mind Fähigkeiten entwickeln, liegen sogenannte False belief Tests vor, die die Entwicklung solcher Annahmen bei Kindern durch eine Aufgabe zum Verständnis von falschen Überzeugungen überprüfbar machen, wie z. B. Perner und Wimmers Maxi-Aufgabe[1].
Kasperletheater ist z. B. nach dem Entwickeln der Theory of mind für Kinder lange nicht so spannend und emotional aufregend, wie vorher:
[1] Große Verbreitung hat auch der Sally and Anne Test: https://de.frwiki.wiki/wiki/Test_de_Sally_et_Anne
Empathie
„Empathie ist die Fähigkeit, eine eigene emotionale Reaktion herzustellen, die der Gefühlslage einer anderen Person ähnelt“ (Lohaus und Vierhaus 2013, S. 225) und kann als emotionaler Anteil von Empathie verstanden werden. Das o. g. Konzept der Theory of Mind kann als kognitiver Anteil von Empathie verstanden werden. Empathie beinhaltet demnach emotionale und kognitive Anteile: Empathiefähigkeit ist das Verstehen, bewusste Einfühlen und Nachempfinden in die Gedanken, Absichten und Emotionen einer fremden Person (vgl. Friedlmeier und Trommsdorff 1992, S. 138ff).
Diese gesamten emotionalen und kognitiven empathischen Fähigkeiten bilden wiederum die Grundlage „für das Entstehen von prosozialer Motivation“ (vgl. Friedlmeier und Trommsdorff 1992, S. 138). Diese Verhaltensebene findet sich im folgende genannten Stufenmodel zur Perspektivübernahme von Selman wieder (als oberste Stufe 5).
Perspektivübernahme nach Selman
Stufenmodelle helfen nicht nur beim Verstehen von komplexen Darstellungen, sondern erleichtern insbesondere hypothetische diagnostische Einschätzungen im Sinne einer Ressourcenanalyse, die sich am Konzept der Zone der nächsten Entwicklung orientiert (vgl. Kramer 2014, S. 13ff):
Nachzeichnung der ontogenetischen Entwicklung von Empathie, Perspektivübernahme, Theory of mind und des Mentalisierens
Folgende Übersicht skizziert beispielhafte Meilensteine im Entwicklungsprozess dieser komplexen Konstrukte in der menschlichen Entwicklung des frühesten Kinder- und Kleinkindalters bis zur Einschulung. Neben den oben kurz beschriebenen Kompetenzbereichen werden hier ergänzend mentalisierende Fähigkeiten miteingebunden, da diese im pädagogischen Raum wertvolle Ansatzpunkte für Förderung bieten:
Es lässt sich feststellen, dass die Entwicklung sozial-kognitiver, mentalistischer und empathischer Fähigkeiten als ein komplexer Prozess begriffen werden kann. Die Entwicklung beginnt unmittelbar nach der Geburt in den frühkindlichen Interaktionen mit den Hauptbezugspersonen und wird innerhalb eines Zusammenspiels genetischer Determinierung und erlebter Umwelterfahrungen individuell ausgeprägt. Je mehr entwicklungsunterstützende Erlebnisse erlebt wurden, umso besser erscheint die Ausprägung bis in die Grundschulzeit zu gelingen. Die Entwicklung kann zudem auch als eine Art Transformationsprozess von interpersonalen hin zu intrapersonalen emotionalen und kognitiven Prozessen verstanden werden. Die sich ausbildenden mentalen Repräsentanzen dieser Erfahrungen, welche sich im Zeitraum der ersten Lebensjahre in unzählbar vielen Interaktionssituationen mit dem sozialen Umfeld des Kindes ausbilden, können durch entwicklungshinderliche Faktoren unzureichend oder weniger ausgeprägt werden, können aber auch im späteren Alter noch (nach)entwickelt werden.
Wie können diese Kompetenzbereiche gefördert werden?
Abschließend werden in der Tabelle hilfreiche Hinweise als eine Art Grundlage zur Förderung dieser Kompetenzen im empathischen Bereich mit seinen kognitiven und emotionalen Anteilen der Theory of mind, Perspektivübernahme und Elementen aus der Mentalisierungspädagogik dargestellt:
Literatur
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Brockmann, Josef und Kirsch, Holger (2015): Mentalisieren in der Psychotherapie. In: psychotherapeutenjournal 1, S. 13-22
Dimitrova, Vasilena und Lüdmann, Mike (2014): Sozial-emotionale Kompetenzentwicklung. Leitlinien der Entfaltung der emotionalen Welt. Wiesbaden, Springer-Verlag VS.
Esken, Frank und Rakoczy, Hannes (2013): Theory of mind. In: Achim Stephan und Sven Walter (Hg.) (2013): Handbuch Kognitionswissenschaft. Stuttgart und Weimar, Metzeler-Verlag, S. 440-451.
Friedlmeier, Wolfgang und Trommsdorff, Gisela (1992): Entwicklung von Empathie. Zuerst erschienen in: Finger, Gertrud (u.a.) (Hrsg.): Frühförderung. Zwischen passionierter Praxis und hilfloser Theorie. Freiburg i. Br.: Lambertus. S. 138-150.
Gingelmaier, Stephane und Gingelmaier, Stefanie (2020): Die Feentür. Ein Beispiel einer alltäglichen mentalisierungsanregenden-didaktischen Idee für die Schule. In: Gingelmaier, Stephan und Kirsch, Holger: Praxisbuch mentalisierungsbasierte Pädagogik. Göttingen, Vandenhoeck und Ruprecht, S. 131-135
Hechler, Oliver (2018): Mentalisierungsfördernder Unterricht. Bindungstheoretische Grundlagen und didaktische Ansätze. In: Gingelmaier, Stephan, Taubner, Svenja und Ramberg, Axel: Handbuch mentalisierungsbasierte Pädagogik. Göttingen, Vandenhoeck und Ruprecht. S. 173-187.
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