Bereit für Veränderung?
von Alexander Lang
Auf individueller Ebene der Schüler*innen erscheint für die Planung und Durchführung sonderpädagogischer Förderprozesse, insbesondere zu Beginn, die Bedeutung der persönlichen Bereitschaft zur Verhaltensveränderung sehr groß. Prochaska, DiClemente und Norcross (1992, S. 1002ff.) beschreiben in sechs Phasen ein Transtheoretisches Modell der Veränderungsbereitschaft (TTM), welches uns Sonderpädagog*innen bei der Diagnose der Veränderungsbereitschaft von Schüler*innen behilflich sein kann. Gut erforscht, ist dieses Modell der Suchtforschung entlehnt. Ich finde die Beschreibung der Phasen für die Arbeit mit Schüler*innen überaus informativ und hilfreich. Ermöglichen sie mir doch eine professionalisierte Planung meiner sonderpädagogischen Förderung:
1. Precontemplation (Stadium der Absichtslosigkeit)
2. Contemplation (Phase des Problembewusstseins)
3. Preparation (Vorbereitungsstadium)
4. Action (Handlungsphase)
5. Maintenance (Phase der Aufrechterhaltung)
6. Termination (dauerhafter Ausstieg und Aufrechterhaltung)
Eine individuelle Förderzielplanung in den Phasen eins und zwei wird sich von den restlichen Phasen elementar unterscheiden.
Eine gar nicht so kleine Schüler*innengruppe (möglicherweise sogar der überwiegende Teil) würde ich im ES-Bereich zu Beginn der Zusammenarbeit der Phase 1 des TTM einordnen. Die Arbeit mit Schüler*innen, die keinerlei Absicht hegen, an sich zu arbeiten oder keine Notwendigkeit sehen, eigenes Verhalten zu verändern, stellen sowohl die Lerngruppe als auch Lehrkräfte vor große Herausforderungen. In der praktischen Arbeit entstehen so häufig pädagogische Grenzsituationen: Diesen Schüler*innen sollten neben der obligatorischen sonderpädagogischen Arbeit wie dem Setzen von Beziehungsangeboten, Vertrauensvorschuss und Wertschätzung natürlich deutliche Grenzen gesetzt und wenn nötig auch die Konfrontation mit dem eigenen Verhalten, erkennbaren Verhaltensmustern und dem Aufzeigen aller Konsequenzen begegnet werden. Nachhaltige positive Verhaltensveränderungen erscheinen in dieser ersten Phase kaum denkbar und sicherlich nicht planbar. In seltenen Fällen wird es möglicherweise beim Begleiten dieser Schüler*innen im Hilfeprozess bleiben (Grundarten des Helfens); selbst oder grade dann, wenn schulexterne Hilfen auch eingestellt werden/wurden.
Meine Erfahrung zeigt mir, dass es intensiver und vertrauensvoller Beziehungsarbeit bedarf, um mit neu in die Lerngruppe kommenden Schüler*innen an Einsicht für als problematisch identifizierter Verhaltensmuster zu arbeiten (Phase 2), sie für Veränderungen aufzuschließen (Phase 3) und sie hierbei schließlich vertrauensvoll zu begleiten (Phase 4).
Besonders wichtig erachte ich emotionale Unterstützung und zum Beispiel Notfallpläne, um Schüler*innen zu stärken, wenn sie im Anschluss an erfolgreiche Handlungsphasen alte Verhaltensmuster erfolgreich ablegten und sich ein neues Verhaltensrepertoire erarbeiteten aber dann in schwierigen Situationen die Aufrechterhaltung möglicherweise nicht aus eigener Kraft leisten können (Phase 5).
Phase 6 sollte gefeiert werden und Schüler*innen an diese Erfolge immer und immer wieder erinnert werden.
Eine Anmerkung ist mir im Kontext Verhaltensänderung besonders wichtig: Wir (sonderpädagogischen) Lehrkräfte sollten uns stetig vergegenwärtigen, wie schwierig uns das Umsetzen der "Guten Vorsätze" nach Silvester fiel, wie häufig wir wissen, dass es im Streit mit Freund*innen und/oder Partner*innen total kontraproduktiv ist, laut zu werden - und wir werden es dennoch. Wir sollten uns gut daran erinnern, wie schwer uns das Rauchenaufhören fiel oder wie häufig unser "innerer Schweinehund" uns auf dem Sofa fesselte, statt die Laufschuhe zu schnüren. Und wer von uns eigene Therapieerfahrung hat oder aus dem eigenen Umfeld kennt, sollte sich auch hier stetig bewusst halten, wie energieintensiv, langwierig und schwierig das Verändern von Verhalten sein kann. Mit den Schüler*innen sollten wir in jeder Phase offen sprechen und den Dialog aufrecht erhalten.
Literatur zum Weiterlesen
Prochaska J. O., DiClemente C. C. and Norcross, J. C.: In Search of How People Change. In: American Psychologist, Vol. 47, 9/1992, S. 1102-1114
Verfügbar unter https://de.scribd.com/document/60471565/Prochaska-J-O-DiClemente-C-C-and-Norcross-J-C-1992-In-Search-of-How-People-Change 07.08.2019
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Dieser Text ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen. Bei Nutzung, auch von Auszügen, ist eine Autorennennung mit Quellenangabe nötig. www.dasistes.info, Alexander Lang 07.08.2019
Kommentare
Kommentar von Morgenroth, Gisela |
Viele Anmerkungen besonders die Kriterien des Phasenmodells kann ich aufgrund meiner langen Berufstätigkeit in der Begleitung, Betreuung und Beschulung schwieriger Kinder/ Jugendlicher als hilfreiche Unterstützung bei der Bereitstellung von Möglichkeiten zur Veränderung innerer Verhaltensmuster und der individuellen Anpassung an äußere Rahmenbedingungen sowie der Erwerb und die Stärkung emotionaler und sozialer Fähigkeiten erkennen.
Solche pädagogischen Leitlinien wie
individuellen Stärken fördern und fordern,
über vielfältige Angebote und persönliches Engagement Beziehung schaffen,
klare Strukturen fördern und eine optimale Lernumgebung schaffen,
soziale Kompetenzen, Selbststeuerungsfähigkeiten vermitteln sind mit Feinzielen in der Förderplanung, im Hilfeprozess zu unterlegen. Authentisches Pädagogen- Verhalten und die Reflexion des eigenen Handelns sind im gesamten Prozess selbstverständlich.
Ihre Erfahrung (eingebettet im Phasenmodel)l - wie der Notwendigkeit einer intensiven und vertrauensvollen Beziehungsarbeit, um Einsicht für das problematisch identifizierter Verhaltensmuster zu erarbeiten, dann Veränderungen aufzuschließen und schließlich vertrauensvoll zu begleiten, kann ein hilfreiches Unterstützungsangebot für Pädagogen im schulischen und sozialpädagogischen Kontext darstellen.
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