Arbeitete ich in der Inklusion, wünschte ich mir...

von Alexander Lang

Ich komme gerade von einer ganztägigen Fortbildung in einer großen Realschule in NRW wieder, die mich anfragte, um Antworten und neue Angebote als Reaktion auf die zunehmende Heterogenität ihrer Schüler*innenschaft zu kreieren. Auch in diesem Kontext wurde ich nach meiner ganz persönlichen Idee von Inklusion und inklusiven Unterricht im Bereich ES gefragt im Sinne von „Wie würden Sie es umsetzen, wenn Sie an eine Schule des gemeinsamen Lernens versetzt würden? So ganz praktisch."

Ich stelle dann immer wieder fest, dass ich tatsächlich eine imaginäre Checkliste vor Augen habe, welche durchaus als meine Wunschvorstellung von praktischem gemeinsamen Lernen beschrieben werden könnte (bisher arbeite ich seit 2004 nur an ES-Förderschulen in Hamburg und NRW).

Ich legte großen Wert darauf, dass es ein schulisches Konzept gäbe, welches festlegt, wie die Ressource sonderpädagogische Lehrkraft eingesetzt würde. Unverhandelbar und unvorstellbar für mich wäre hierbei, dass sonderpädagogische Lehrkräfte "nur" als zweite Lehrkraft eingesetzt wären und zudem äußere Differenzierung dazu führte, dass ich als sonderpädagogische Lehrkraft entweder im Klassenraum als "Assistent" des jeweiligen Fachlehrers größte Langeweile hätte. Noch dazu wäre ich in dieser Einsatzart ja quasi der Stigmastempel aller SuS mit sonderpädagogischem Förderbedarf ES, da ich vermutlich häufig bei ihnen sitzen würde oder sie mit mir in andere Räumlichkeiten in Kleingruppen arbeiten müssten.

Wie würde ich es mir denn anders wünschen?

Ich würde in ein solches Konzept festschreiben, dass alle Lehrkräfte, so auch die sonderpädagogischen Lehrkräfte, sowohl Klassenleitungen als auch Fachunterricht in den jeweilig studierten Fächern unterrichten müssen. Teamteaching wäre dann in allen denkbaren Konstellationen denkbar (sollte es ausreichende Stellenressourcen geben): beide Lehrkräfte könnten die Rolle als mitteachende Lehrkraft abwechselnd übernehmen (in meinen Fächern Geschichte und Erdkunde könnte eine Lehrkraft der allgemeinen Pädagogikmitteachend im Sinne einer Lernbegleitung im Sinne Stein und Steins agierenund umgekehrt könnte ich als mitteachende sonderpädagogische Lehrkraft im Deutschunterricht diese Rolle einnehmen).

Warum?

Als sonderpädagogische Lehrkraft fühle ich mich nicht nur kompetent in den überfachlichen Bereichen meiner jeweiligen Fachrichtungen (in meinem Fall ES und GG), sondern natürlich auch in meinen ausgebildeten Unterrichtsfächern. Zudem käme es mir aberwitzig vor, dass ich nach den vielen Jahren als Klassenleitung und fachfremd den gesamten Fächerkanon unterrichtende sonderpädagogische Lehrkraft im Förderschulbereich (von Klasse 1 bis 10) aufgrund eines Wechsels in ein inklusives Arbeitsfeld keinen Unterricht mehr planen und durchführen sollte. Meinem Verständnis nach fühlte ich mich wie selbstverständlich für alle SuS einer Lerngruppe zuständig und würde Unterricht für alle SuS der Lerngruppe planen- aus sonderpädagogischer Perspektive.

In dem Konzept wünschte ich mir unbedingt verbindliche Standards, nach denen Unterricht in allen Klassen grundsätzlich adaptiv gestaltet würde, d. h. die Passung zwischen dem Lernangebot und den individuellen Lernausgangslagen der SuS sollte eine große Bedeutung haben: Nicht alle SuS einer Lerngruppe benötigen dieses Maß an Adaptivität, d. h. hier könnte zum ökonomischen Einsatz der Ressourcen z. B. in Anlehnung an das RTI-Mehrebenenmodell (Respond to Intervention) schulweit festgelegt sein, wer die Zielgruppe welcher Angebote ist, sein kann oder sein muss:

Dementsprechend wären aus ES-sonderpädagogischer Perspektive SuS der oberen beiden Bereiche Zielgruppe von sonderpädagogischer Unterrichtsplanung und somit einem Mehr an Individualisierung des (akademischen) Unterrichtsangebotes (Adaptivität). Sonderpädagogische Unterrichtsplanung zöge in allen Fällen Veränderungen auf allen Ebenen des Unterrichts nach sich: Methodische Entscheidungen würden auf der Grundlage der individuellen Lernvoraussetzungen von SuS getroffen, individuelle Lernbarrieren von SuS in Hinsicht auf das fachdidaktisch angedachte Setting müssten identifiziert werden und sonderpädagogische Maßnahmen getroffen werden, um diese Lernbarrieren zu minimieren oder zu neutralisieren: Damit SuS Lernzuwächse erreichen können. Überfachliche Inhalte könnten auch auf Zielebene zu relevanten didaktischen Elementen des Unterrichts werden, dann spräche man von sog. dualen Planungen, in denen der überfachliche Bereich entweder mehr oder weniger fokussiert neben dem fachlichen Bereich in Erscheinung treten würde.

Generalpräventive Angebote

Auf der Ebene der generalpräventiven Angebote umfasste mein inklusives Konzept unbedingt ein schulweites (also klassenübergreifendes) Verständnis von Schule als Ort des Wohlfühlens, des Sich-Angenommen-Fühlens aber auch des Gefordert- und Gefördertwerdens: in ES benutze ich hierfür die Begrifflichkeiten des "therapeutischen Mileus" (nach Stein und Stein, S. 88) aber auch des "Sicheren Ortes" nach Hennemann und Leidig (s. Literatur).

Warum?

In der Studie INTAKT kommt Annedore Prengel zu der aus unserer Fachperspektive heraus überaus besorgniserregenden Erkenntnis, dass im Kontext Schulunterricht insgesamt 22% leicht verletzende und sehr verletzende Interaktionssequenzen aus einem 15.000 Fallvignetten umfassenden Pool an standardisiert erfassten Interaktionen zu beobachten waren. Umso wichtiger erscheint es, dass das professionsspezifische Wissen unserer Fachrichtung absolut gegenteilige pädagogische Interaktionensszenarien bewirkt, auch in die Allgemeine Pädagogik hinein (vgl. Prengel, S. 105).

Ein inklusives Schulkonzept beinhaltete unbedingt Vorgaben zur systematischen Planung dieser o. g. selektiven und indizierten Maßnahmen: Ich könnte mir vorstellen diese vier bewährten Konzepte zur Unterrichtsplanung für heterogene Lerngruppen verbindlich zur gemeinsamen (!) Planung von Lehrkräften der Allgemeinen Pädagogik und Sonderpädagogik verbindlich einzuführen und entsprechende Dienstzeiten für diese Planungstätigkeiten einzuführen:

Quellenangaben der Graphiken und weitere Informationen zu den vier Modellen finden Sie hier.

Mein inklusives Konzept umfasste unbedingt verbindliche kollegiale Strukturen, um meine Vorstellungen einer reflexiven Sonderpädagogik nach Willmann umsetzen zu können und nicht bei in einer rein internventionistischen Sonderpädagogik, die immanent zum Ziel hat, als verhaltensgestört bezeichnete SuS im Lichte eines medizinischen Behinderungsbegriff "heilen" und "entstören" zu wollen (s. Wilmmann Literturliste). Eine reflexive Sonderpädagogik erfordert neben Fortbildungen zum systemischen Verständnis von Verhaltensstörungen für Lehrkräfte der Allgemeinen Pädagogik (aber auch der Sonderpädagogik) vor allem den dienstlichen Raum für einen systematischen kollegialen Austausch und kollegiale Fallberatungen, optimalerweise auch Supervisionsangebote.

Unbedingt wichtig wäre ein klassenübergreifendes Konzept für SuS, die situativ nicht am unterrichtlichen Angebot partizipieren können: Optimal gefällt mir das Konzept der Schulstation von Nevermann:

Eine Schulstation – was ist das eigentlich?

In seinem Buch „Schulische Prävention im Bereich Verhalten“ führt Prof. Dr. Thomas Hennemann etl al. (Lehrstuhlinhaber Emotionale und soziale Entwicklung an der Universität zu Köln) u. a. seinen präventiven Mehrebenenansatz pädagogischer Prävention aus (S. 79ff). Neben der individuellen Ebene (Maßnahmen für einzelne SuS), der Klassenebene (z. B. effektives Claasroommanegement) setzt das Wirken der Schulstation vor allem auf der Schulebene, bzw. Systemebene an (zudem können hier auch Trainingsprogramme wie LUBO aus dem ALL schulintern verankert und systemmatisch eingesetzt sein): Als schulweites Angebot wirkt die Schulstation sich positiv auf die Haltung von uns Lehrkräften aus, kann die Schulatmosphäre bereichern und somit Raum für Veränderung ermöglichen. Schulstationen wurden laut Christiane Nevermann im Zuge eines Modellprojektes zur Förderung von Schülerinnen und Schülern mit auffälligem Verhalten entwickelt. Nevermann selbst begleitete die Realisierung von Schulstationen als Kooperation von Kinder- und Jugendhilfe und Förderschulen mit dem sonderpädagogischen Schwerpunkt Emotionale und soziale Entwicklung, um Verhaltensschwierigkeiten von SuS präventiv entgegenwirken zu können.Zudem verstehen sich Schulstationen auch als innerschulisches aktives Entgegenwirken auf wenig entwicklungsförderliche Bedingungen, unter welchen insbesondere die Schülerschaft einer Förderschule inner- und außerschulisch aufwächst. Die Schulstation kann und soll zudem insbesondere in unserem spezifischen Schulkontext dazu beitragen, das Spannungsfeld zwischen einer

Sachorientierung einerseits

(sprich Lehrplan- und Standardovorgaben: „Die sonderpädagogische Förderung orientiert sich grundsätzlich an den Bildungszielen der allgemeinen (…) Schule“, KMK, 2000, S. 3) und der fachrichtungsspezifischen

Individuumorientierung andererseits

„Sonderpädagogische Förderung soll das Recht der Kinder (…) auf eine ihren individuellen Möglichkeiten entsprechende schulische Bildung verwirklichen helfen (…)”. „Die sonderpädagogische Förderung ist in erster Linie auf die Weiterentwicklung der Fähigkeiten zu emotionalem Erleben und sozialem Handeln gerichtet” (ebd., S. 3) in Richtung der Individuumorientierung verschieben, um unsere Schülerschaft für Bildungsinhalte und -ziele aufzuschließen und individuelle positive Entwicklungen zu initiieren.

Was bedeutet dies konkret?

Ein wenig schwingt die Bedeutung „Station machen“, ein „Zur-Ruhe-Kommen“ in der Begrifflichkeit mit. Die Schulstation als Konzept versteht sich als ein Organisations- und Handlungsansatz, der auf Prävention ausgerichtet ist: Insbesondere sollen innerschulische ergänzende pädagogische Maßnahmen zur emotionalen und sozialen Stützung von SuS als Erweiterung schulischer Angebote realisiert werden. Die Schulstation soll ein pädagogischer Ort der Nähe, ein besonders ansprechender Raum, bequem, ein Raum der Zuwendung und des gemeinsamen Tuns sein. Schulstationen sind also qua Existenz ein Antagonist des traditionellen schulischen Denkens der Bildungslastigkeit (Sachorientierung vor Beziehungs-orientierung), des Funktionieren-Müssens des schul- und gesellschaftsimmanenten Leistungsdenkens, wo „mehr“ mit „besser“ gleichgesetzt wird.

Warum können Schulen Schulstationen so gut gebrauchen?

„Kinder brauchen Menschen, die ihnen nahe sind, sich Zeit für sie nehmen, auf ihre Bedürfnisse und Sorgen eingehen und sich vor allem als verlässlich erweisen und Sicherheit geben“(…) Für SuS liegt der positive Wert einer Schulstation vor allem darin, „als Person angenommen und akzeptiert zu werden sowie im Umgang mit schulischen Anforderungen mehr Sicherheit und weiger Hilflosigkeit zu erfahren“.

Diese pädagogischen Ideen basieren für uns vor allem auf den Grundannahmen der Humanistischen Psychologie. An dieser Stelle sei kurz auf Ruth Cohn verwiesen, die postulierte, dass die besondere Wertschätzung und der besondere Respekt vor menschlichem Leben zur Folge haben müsse, dass Wachstum im Sinne von positiven Veränderungen für jedes Individuum möglich ist und wir die uns anvertrauten Schülerinnen und Schüler in diesem Sinne beim Wachsen begleiten möchten (nach Cohn 1994, S. 194ff).

Im Kern bedeutet eine Schulstation also auch, jungen Menschen in schwierigsten Lebenslagen, aus teilweise schwierigsten psycho-sozialen und ökonomischen Kontexten zu ermöglichen, sich seltener als „gestört“, „behindert“, „zu doof“, „wertlos“, ausgegrenzt, anders oder defekt zu erleben, sondern ganz im Gegenteil die eigenen Resilienzen und Ressourcen erkennen und nutzen und erweitern zu können.

Insbesondere die konzeptuellen und systemischen Freiheiten, welche Förderschulen ES noch für sich nutzen können, scheinen sich also für die Einrichtung und das Betreiben einer Schulstation (samt kreativer zielführender individueller Erweiterungen) besonders zu eignen.

Dieser sicherlich unvollständigen Aufzählung einiger mir wesentlich wichtiger Dinge für Arbeit in inklusiven Bildungskontexten werde ich von Zeit zu Zeit sicherlich noch Ergänzungen hinzufügen.

Abschließend möchte ich mir noch die Ausführungen der der Deutschen Unesco Kommission (2009, S. 8/ 9) zu inkusiver Bildung zu eigen machen:

„Inklusion wird also als ein Prozess verstanden, bei dem auf die verschiedenen Bedürfnisse von allen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen eingegangen wird. Erreicht wird dies durch verstärkte Partizipation an Lernprozessen, Kultur und Gemeinwesen, sowie durch Reduzierung und Abschaffung von Exklusion in der Bildung. Dazu gehören Veränderungen in den Inhalten, Ansätzen, Strukturen und Strategien. Diese Veränderungen müssen von einer gemeinsamen Vision getragen werden, die alle Kinder innerhalb einer angemessenen Altersspanne einbezieht, und von der Überzeugung, dass es in der Verantwortung des regulären Systems liegt, alle Kinder zu unterrichten. (…) Ein inklusives Bildungssystem kann nur geschaffen werden, wenn Regelschulen inklusiver werden – mit anderen Worten: wenn sie besser darin werden, alle Kinder ihres Einzugsgebiets auf der Grundlage ihrer individuellen Fähigkeiten zu unterrichten.“

 

Literatur

Stein, Roland und Stein Alexandra: Integrative Didaktik, 2014

Hennemann, Thomas et. al.: Schulische Prävention im Bereich Verhalten, 2015

Hennemann, Thomas und Tatjana Leidig: Einen sicheren Ort schaffen

Willmann, Marc: De-Psychologisierung

Deutsche Unesco Kommission (2009): Inklusion: Leitlinien für die Bildungspolitik. Bonn: Deutsche UNESCO-Kommission e. V. (DUK)

https://www.unesco.de/sites/default/files/2018-05/2014_Leitlinien_inklusive_Bildung.pdf

KMK, Empfehlungen zum Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung, 2000, PDF hier

Nevermann, Christiane, Schulstationen – Emotionale Stützung und soziale Integration im Lernfeld Schule. In: Preuss-Lausitz, Ulf, Schwierige Kinder – Schwierige Schule. Konzepte und Praxisprojekte zur integrativen Förderung verhaltensauffälliger Schülerinnen und Schüler. Beltz 2004

Cohn, Ruth: Von der Psychoanalyse zur Themenzentrierten Interaktion. 2016

Annedore Prengel: Pädagogische Beziehungen zwischen Anerkennung, Verletzung und Ambivalenz. Budrich, Opladen, 2019

Handreichung Inklusion der Bezirksregierung Köln, 2019

 

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Kommentare

Kommentar von ikke |

wow... eine fantastische Synthese. Danke :)

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